Spillover
Krankheitserreger von einem Tier auf einen Menschen überspringt und sich dort als infektiöse Einheit etablieren kann – was manchmal in Krankheit oder Tod endet –, spricht man von einer Zoonose.
Den Fachbegriff »Zoonose« kennen nur die Wenigsten, aber er sorgt für eine gewisse Klärung der komplexen biologischen Zusammenhänge, die hinter den dicken Schlagzeilen zu Schweinegrippe, Vogelgrippe, SARS , neuen Infektionskrankheiten allgemein oder zur Gefahr einer weltweiten Pandemie stehen. Er hilft uns zu verstehen, warum Wissenschaft und Gesundheitspolitik in der Lage waren, manche entsetzlichen Krankheiten wie Pocken und Kinderlähmung zu besiegen, während andere entsetzliche Krankheiten wie Dengue- und Gelbfieber nach wie vor unbesiegt sind. Er sagt etwas Wesentliches über die Ursprünge von AIDS aus. »Zoonose« ist ein Wort der Zukunft, und es wird im 21. Jahrhundert mit Sicherheit noch oft benutzt werden.
Ebola ist eine Zoonose. Die Pest auch. Ebenso die sogenannte Spanische Grippe von 1918/19, die ursprünglich Wasservögel befiel, dann aber – nachdem sie verschiedene Haustiere (eine Ente in Südchina, ein Hausschwein in Iowa?) durchlaufen hatte – bis zu 50 Millionen Menschen tötete, um schließlich wieder in der Versenkung zu verschwinden. Alle Formen der Grippe beim Menschen sind Zoonosen. Das Gleiche gilt für Affenpocken, Rindertuberkulose, Borreliose, West-Nil-Fieber, Marburgvirus, Tollwut, Hantavirus-Pneumonie, Milzbrand, Lassafieber, Rift-Valley-Fieber, Larva migrans der Augen, Tsutsugamushi-Fieber, bolivianisches hämorrhagisches Fieber, Kyasanur-Wald-Fieber und die Nipah-Enzephalitis, eine merkwürdige neue Erkrankung, an der Schweine und Schweinehalter in Malaysia gestorben sind. Jede dieser Krankheiten spiegelt die Aktivität eines Erregers wider, der von anderen Tieren auf Menschen übergehen kann. Auch AIDS ist eine Erkrankung mit zoonotischen Ursprüngen: Das Virus, das sie verursacht, erreichte in West- und Zentralafrika durch wenige zufällige Ereignisse den Menschen und wird nun millionenfach von Mensch zu Mensch weitergegeben. Solche Sprünge von einer Art zur anderen sind nicht selten, sondern häufig: Rund 60 Prozent aller Infektionskrankheiten, die wir heute beim Menschen kennen, wechseln entweder regelmäßig zwischen anderen Tieren und uns hin und her, oder sie haben kürzlich die Artgrenze überschritten. Manche davon, insbesondere die Tollwut, sind allgemein bekannt, weit verbreitet und immer noch entsetzlich tödlich: Trotz jahrhundertelanger Bemühungen, ihre Wirkungen zu bekämpfen, trotz internationaler Anstrengungen, sie auszurotten oder unter Kontrolle zu bringen, und trotz handfester wissenschaftlicher Kenntnisse über ihre Mechanismen kosten sie nach wie vor Tausende von Menschen das Leben. Andere sind neu und aus unerklärlichen Gründen selten: Sie fordern hier und da nur (wie Hendra) wenige oder (wie Ebola) einige Hundert Opfer, um dann wieder auf Jahre hinaus zu verschwinden.
Um ein Gegenbeispiel zu nennen: Die Pocken sind keine Zoonose. Ihr Erreger, das Pocken- oder Variolavirus, infiziert unter natürlichen Bedingungen ausschließlich Menschen. (Laborbedingungen sind etwas anderes, im Experiment hat man hin und wieder – meist im Rahmen der Impfstoffforschung – auch Primaten und andere Tiere mit dem Virus infiziert.) Das ist eine Erklärung dafür, warum die weltweite Kampagne der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Ausrottung der Pocken 1980 erfolgreich war. Die Pocken konnte man ausrotten, weil das Virus nicht in der Lage ist, sich in einem anderen als dem menschlichen Organismus (oder einem sorgfältig überwachten Labortier) festzusetzen und zu vermehren; deshalb konnte es sich nicht verstecken. Das Gleiche gilt für die Kinderlähmung: Auch sie ist eine Viruskrankheit, von der die Menschheit seit Jahrtausenden heimgesucht wurde, die aber (aus verschiedenen Gründen, auf die wir hier nicht eingehen können) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere in Europa und Nordamerika zu einer gefürchteten Epidemie wurde. In den Vereinigten Staaten erreichte die Krankheit 1952 ihren Höhepunkt: Damals forderte eine Epidemie mehr als 3000 Opfer, darunter viele Kinder, und 21000 weitere waren auf Dauer zumindest teilweise gelähmt. Wenig später fanden Impfstoffe, die Jonas Salk, Albert Sabin und der Virusforscher Hilary Koprowski (von dessen umstrittener Karriere noch die Rede sein wird) entwickelt hatten, breite Anwendung, was dazu führte, dass
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