Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spin

Spin

Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
abzuschätzen, aber sie stieg auf – nicht ganz rot, eher ein rötliches Orange, sofern dies nicht Resultat von Kameramanipulationen war –, bis sie über dem Meer, über Queens und Manhattan schwebte, zu groß eigentlich, um als Himmelskörper durchzugehen, eher wie ein gewaltiger, mit bernsteinfarbenem Licht gefüllter Ballon.
    Ich wartete auf weitere Kommentare, doch das Bild blieb stumm, bis zu einem Studio im mittleren Westen, dem Ausweichhauptquartier des Senders, umgeschaltet wurde und jemand ins Bild kam, der zu schlecht zurechtgemacht war, als dass es sich um einen regulären Moderator handeln konnte, und der völlig sinnlose Warnungen von sich gab. Ich schaltete den Apparat aus.
    Und trug mein Gepäck zum Auto.
    Fulton und Jody kamen aus dem Büro, um mich zu verabschieden. Plötzlich waren sie alte Freunde, denen es Leid tat, dass ich gehen musste. Jody sah ziemlich ängstlich aus. »Sie hat mit ihrer Mama gesprochen«, sagte Fulton. »Die hatte noch nichts von den Sternen gehört.«
    Ich versuchte mir das frühmorgendliche Gespräch auszumalen: Wie Jody aus der Wüste anruft und ihrer Mutter etwas mitteilt, das diese als unmittelbares Bevorstehen des Weltuntergangs begreifen muss. Wie Jodys Mutter Abschiedsworte an ihre Tochter richtet und zugleich versucht, sie nicht zu Tode zu erschrecken, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu schützen.
    Nun lehnte Jody sich gegen ihren Vater, und dieser legte zärtlich den Arm um sie. »Müssen Sie wirklich wegfahren?«, fragte sie.
    Ich nickte.
    »Wenn Sie wollen, können Sie nämlich hier bleiben. Hat mein Papa gesagt.«
    »Mr. Dupree ist Arzt«, sagte Fulton sanft. »Vermutlich muss er einen Hausbesuch machen.«
    »Das stimmt«, erwiderte ich. »Das muss ich.«
     
    Viele Menschen benahmen sich sehr schlecht an diesem Morgen, in ihren vermeintlich letzten Stunden. Es war, als sei das Flackern nur eine Probe für das bevorstehende Ende gewesen. Wir hatten die Vorhersagen gehört: brennende Wälder, sengende Hitze, verdampfende Meere. Die Frage war nur, ob es einen Tag, eine Woche oder einen Monat dauern würde.
    Und so schlugen wir Fenster ein, nahmen das, was uns gefiel, nahmen jeden Plunder, den uns das Leben vorenthalten hatte. Männer versuchten Frauen zu vergewaltigen, wobei etliche von ihnen feststellen mussten, dass der Verlust aller Hemmungen in beide Richtungen funktionierte und das vermeintliche Opfer die Fähigkeit entwickelte, seinem Widersacher ins Auge zu stechen oder in die Hoden zu treten. Alte Rechnungen wurden mit der Waffe beglichen. Die Selbstmorde waren Legion. (Ich dachte an Molly. Wenn sie nicht schon seit dem ersten Flackern tot war, dann starb sie mit Sicherheit jetzt, starb vielleicht sogar voller Befriedigung über das Aufgehen ihres Plans. Zum ersten Mal überkam mich das Bedürfnis, um sie zu weinen.)
    Doch es gab auch Inseln des Anstands und Handlungen von heroischer Selbstlosigkeit. Die Interstate 10 an der Grenze nach Arizona war eine solche Insel.
    Während des Flackerns war eine Abteilung der Nationalgarde an der Brücke über den Colorado River stationiert gewesen. Die Soldaten waren jedoch kurz nach dem Ende des Flackerns verschwunden, zurückbeordert vielleicht oder einfach auf ungenehmigtem Urlaub, unterwegs nach Hause, und ohne sie hätte die Brücke zu einem unpassierbaren Nadelöhr werden können.
    Wurde sie aber nicht. Ein Dutzend Zivilisten, Freiwillige mit Taschenlampen oder Signalleuchten aus ihrer Notfallausrüstung, hatte die Aufgabe übernommen, den Verkehr zu regeln. Und sogar die ewig Eiligen – die Leute, die bis Sonnenaufgang noch eine weite Strecke zurücklegen wollten oder mussten, nach New Mexico, Texas oder sogar Louisiana, falls ihnen der Motor nicht vorher wegschmolz –, sogar sie schienen zu begreifen, dass das notwendig war, dass jeder Versuch, sich vorzudrängein, aussichtslos war und es keine Alternative dazu gab, sich in Geduld zu üben. Ich weiß nicht, wie lange diese Stimmung anhielt oder was sie hatte entstehen lassen. Vielleicht war es menschliche Solidarität, vielleicht war es aber einfach auch das Wetter: ungeachtet des aus Osten auf uns zurollenden Verhängnisses war es eine pervers schöne Nacht. Verstreute Sterne in einem klaren, kühlen Himmel; eine anregende Brise, die den Auspuffgestank fortwehte und so sanft durchs Autofenster strich wie die Hand einer sorgenden Mutter.
     
    Ich erwog, mich in einem der örtlichen Krankenhäuser zu melden, meine Dienste als Arzt zur Verfügung zu

Weitere Kostenlose Bücher