Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spin

Spin

Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Auto gehört haben, denn die große Eingangstür ging auf, bevor ich klopfen konnte. »Tyler!«, rief er grinsend.
    Ich trat ein und stellte meinen regenfeuchten Koffer auf dem Fliesenboden der Diele ab. »Lange nicht gesehen, Jase.«
    Wir waren über E-Mail und Telefon in Verbindung geblieben, aber von einigen kurzen Feiertagsbesuchen im Großen Haus abgesehen, war dies das erste Mal seit acht Jahren, dass wir uns zusammen in einem Raum befanden. Vermutlich hatte die Zeit bei uns beiden ihre Spuren hinterlassen, eine unauffällige Bestandsaufnahme sollte das bestätigen. Ich hatte ganz vergessen, wie eindrucksvoll sein Äußeres war. Er war schon immer groß gewesen, stets entspannt in seinem Körper ruhend; das war immer noch so, obwohl er ein bisschen magerer als früher wirkte, nicht zerbrechlich, aber in einem zerbrechlichen Gleichgewicht, wie ein auf dem Kopfende stehender Besenstiel. Seine Haare bildeten ein gleichmäßiges Stoppelfeld von einem knappen Zentimeter Länge. Und obwohl er einen Ferrari fuhr, legte er nach wie vor keinen Wert auf einen wie auch immer gearteten persönlichen Stil: er trug abgerissene Jeans, einen ausgebeulten, zerfransten Strickpullover und billige Halbschuhe.
    »Hast du unterwegs gegessen?«, fragte er.
    »Spätes Mittagessen.«
    »Hungrig?«
    War ich nicht, aber ich gestand, dass ich ziemlich scharf auf eine Tasse Kaffee war. Das Medizinstudium hatte mich in die Koffeinabhängigkeit getrieben. »Du hast Glück«, sagte Jason. »Ich hab auf der Fahrt hierher ein Pfund Guatemaltekischen gekauft.« Die Guatemalteken, unbekümmert um das Ende der Welt, ernteten also immer noch Kaffeebohnen. »Ich setz eine Kanne auf. Dann zeig ich dir alles.«
    Wir machten einen Rundgang durchs Haus. Es hatte eine gewisse Zwanzigstes-Jahrhundert- Verspieltheit, mit apfelgrün und herbstorange gestrichenen Wänden, soliden antiquarischen Möbeln, Messingbetten und Spitzenvorhängen vor bauchigem Fensterglas, an dem unablässig der Regen herabströmte. Moderne Annehmlichkeiten in der Küche und im Wohnzimmer – großer Fernseher, Musikanlage, Internetanschluss. Behaglich im Regen. Nach unten zurückgekehrt, schenkte Jason den Kaffee ein. Wir saßen am Küchentisch und brachten uns auf den neuesten Stand.
    Was seine Arbeit betraf, äußerte sich Jason unbestimmt, aus bescheidener Zurückhaltung oder aus Sicherheitsgründen. In den acht Jahren, nachdem die wahre Natur des Spins enthüllt worden war, hatte er einen Doktortitel in Astrophysik erworben, dann aber die Universität verlassen, um, in vorerst noch nachgeordneter Position, in E. D.s Perihelion-Stiftung einzutreten. Vielleicht kein schlechter Zug, war E. D. doch inzwischen ein hochrangiges Mitglied von Präsident Walkers Sonderausschuss für Globale Umweltkrisenplanung. Laut Jase stand Perihelion kurz davor, von einer Raumfahrt-Expertenkommission in ein offizielles Beratungsgremium umgewandelt zu werden, ausdrücklich autorisiert, politische Vorgaben zu machen.
    »Ist das denn legal?«
    »Sei nicht naiv, Tyler. E. D. hat sich von Lawton Industries zurückgezogen. Er hat seinen Vorstandsposten niedergelegt, und seine Anteile werden treuhänderisch verwaltet. Unseren Anwälten zufolge ist er konfliktfrei.«
    »Und was machst du bei Perihelion?«
    Er lächelte. »Ich höre den Älteren aufmerksam zu und mache höfliche Vorschläge. Aber erzähl mir von der Medizin.«
    Er fragte mich, ob ich es widerwärtig fände, derart viel menschliche Schwäche und Krankheit zu Gesicht zu bekommen. Also erzählte ich ihm von meinem Anatomieseminar im zweiten Jahr. Zusammen mit einem Dutzend anderer Studenten hatte ich eine menschliche Leiche seziert und deren Inhalt nach Größe, Farbe, Funktion und Gewicht sortiert. Keine angenehme Erfahrung. Der einzige Trost lag in der Wahrheit und der einzige Verdienst im Nutzen. Aber es war auch ein Meilenstein, ein Gang auf die andere Seite. Jenseits dieses Punktes war von der Kindheit nichts mehr übrig.
    »Herrgott, Tyler. Willst du vielleicht etwas Stärkeres als den Kaffee da?«
    »Ich sag nicht, dass es eine große Sache war. Das ist ja das Schockierende daran. Es war keine große Sache. Du gehst da rein und hinterher ins Kino.«
    »Aber ein weiter Weg vom Großen Haus.«
    »Ein weiter Weg. Für uns beide.« Ich hob meine Tasse.
    Dann tauschten wir Erinnerungen aus, und die Spannung in unserer Unterhaltung verflüchtigte sich. Wir sprachen von den alten Zeiten. Dabei folgten wir, wie ich bald merkte, einem

Weitere Kostenlose Bücher