Spin
Stapel Empfehlungsschreiben meiner bisherigen Dozenten und anderer ehrwürdiger Personen (E. D.s Freigebigkeit nicht zu vergessen) verschafften mir Zugang zur medizinischen Fakultät SUNY in Stony Brook, wo vier weitere Studienjahre abzuleisten waren. Das lag jetzt hinter mir, ich hatte fertig studiert, aber noch warteten mindestens drei Jahre Facharztausbildung auf mich, bevor ich praktizieren konnte.
Was mich in die Mehrheit der Menschen einreihte, die ihr Leben weiterhin so lebten, als hätten sie noch nie vom bevorstehenden Ende der Welt gehört.
Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn man den Weltuntergang auf Tag und Stunde genau vorausberechnet hätte. Dann hätten wir uns alle ein Leitmotiv – von Panik bis hin zu frommer Resignation – wählen und die menschliche Geschichte mit einem angemessenen Sinn fürs Timing, den Blick immer auf die Uhr gerichtet, zu Ende bringen können.
Aber womit wir es hier zu tun hatten, war nur eine – allerdings hohe – Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendwann ausgelöscht würden, in einem stetig lebensfeindlicher werdenden Sonnensystem. Gut, vermutlich konnte nichts uns auf Dauer vor der expandierenden Sonne schützen, die wir alle auf den von Weltraumsonden aufgenommenen NASA-Bildern gesehen hatten – aber vorerst waren wir abgeschirmt, aus Gründen, die niemand erklären konnte. Die Krise, falls es denn eine solche gab, war nicht zu greifen, der einzige den Sinnen zugängliche Hinweis war die Abwesenheit der Sterne – Abwesenheit als Hinweis, Hinweis auf Abwesenheit.
Wie also gestaltet man ein Leben, über dem drohend die Möglichkeit der Auslöschung schwebt? Diese Frage definierte unsere Generation. Für Jason war es nicht weiter schwierig, wie es schien; er hatte sich kopfüber in das Problem gestürzt: binnen kurzem wurde der Spin sein Leben. Und auch für mich war es, vermute ich, relativ einfach. Ich hatte ohnehin eine Neigung für die Medizin gehabt, und das schien jetzt, in der Atmosphäre einer vor sich hinköchelnden Krise, eine besonders glückliche Wahl zu sein. Vielleicht stellte ich mir vor, Leben zu retten, sollte das Ende der Welt sich als nicht nur hypothetisch erweisen, aber auch nicht auf einen Schlag erfolgen. Aber kam es darauf noch an, wenn wir sowieso alle zum Untergang verdammt waren? Warum ein einzelnes Leben retten, wenn bald darauf alles Leben ausradiert würde? Aber natürlich retten wir Ärzte im Grunde kein Leben, sondern verlängern es günstigstenfalls, und wenn das nicht klappt, geben wir Schmerzmittel. Das ist am Ende vielleicht das Nützlichste von dem, was wir gelernt haben.
Außerdem waren College und weiterführendes Studium eine lange, aufreibende, aber willkommene Ablenkung von allem anderen Leid der Welt gewesen.
Ich kam also zurecht. Jason kam zurecht. Aber viele Menschen hatten große Schwierigkeiten. Diane war eine von ihnen.
Ich war gerade dabei, mein Einzimmer-Apartment in Stony Brook auszuräumen, als Jason anrief.
Es war früher Nachmittag. Die von der Sonne nicht zu unterscheidende optische Illusion strahlte. Der Hyundai war beladen und bereit, die Fahrt nach Hause anzutreten. Mein Plan sah vor, dass ich ein paar Wochen bei meiner Mutter verbringen und dann noch ein oder zwei Wochen gemütlich mit dem Auto durch die Gegend fahren würde. Dies war die letzte freie Zeit, die ich vor Antritt meiner Assistenzarztstelle in Harborview in Seattle haben würde, und ich hatte die Absicht, sie zu nutzen, um ein wenig von der Welt zu sehen, jedenfalls von dem Teil der Welt, der zwischen Maine und dem Staat Washington lag. Aber Jason hatte andere Vorstellungen. Und er ließ mich kaum mein Hallo-wie-geht’s aussprechen, kam gleich zur Sache.
»Tyler, diese Gelegenheit ist zu gut, als dass man sie verpassen darf. E. D. hat ein Sommerhaus in den Berkshires gemietet.«
»Ach ja? Schön für ihn.«
»Aber er kann es nicht nutzen. Letzte Woche hat er ein Aluminiumpresswerk in Michigan besichtigt und dabei ist er von einer Ladeplattform gefallen und hat sich die Hüfte angebrochen.«
»Oh, tut mir Leid.«
»Es ist nichts Ernstes, die Heilung schreitet voran, aber er muss noch eine Weile auf Krücken gehen, und er will nicht den ganzen Weg nach Massachusetts kutschieren, nur um dort herumzusitzen und Percodan zu lutschen. Und Carol war von Anfang an nicht so furchtbar begeistert von der Idee.« Was mich nicht weiter überraschte – Carol Lawton war zur Gewohnheitstrinkerin geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen,
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