Spin
unseren Chiliasmus verantwortlich.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.« Tatsächlich hatte ich, seit das Wort »Parusie« gefallen war, mehr oder weniger nur noch Bahnhof verstanden.
»Es bedeutet – na ja, wichtig ist eigentlich nur, dass Jordan Tabernacle, unsere kleine Kirche, jeglicher NK-Doktrin offiziell abgeschworen hat, obwohl die Gemeinde zur Hälfte aus ehemaligen NK-Leuten wie Simon und mir besteht. Plötzlich gibt es also diesen ganzen Streit über die Trübsalszeit und darüber, wie sich der Spin zur biblischen Prophezeiung verhält. Und die Leute schlagen sich auf diese oder jene Seite. Bereaner gegen Progressive, Covenanter gegen Preteristen. Gibt es einen Antichrist, und wenn ja, wo ist er? Erfolgt die Entrückung vor der Trübsalszeit, währenddessen oder danach? Solche Themen. Vielleicht klingt es banal, aber die spirituellen Einsätze sind hoch und die Leute, die in diese Diskussionen verwickelt sind, stehen uns nahe, sind unsere Freunde.«
»Wo stehst du denn?«
»Ich persönlich?« Sie schwieg, und da war es wieder, das murmelnde Geräusch des Radios im Hintergrund, die Valiumstimme eines Sprechers, der die Spätnachrichten verlas: Neueste Informationen über die Schießerei in Mesa… Parusie ja oder nein. »Man könnte sagen, ich bin im Konflikt. Ich weiß nicht, was ich glaube. Manchmal vermisse ich die alten Zeiten. Das Paradies erfinden, während man das Leben lebt. Es scheint, als wäre…« Sie hielt inne. Jetzt war da noch eine andere Stimme, die das Murmeln des Radios verdoppelte: Diane? Bist du immer noch auf?
»Tut mir Leid«, flüsterte sie. Simon auf Kontrollgang. Es war Zeit, unser telefonisches Stelldichein, ihren Akt körperloser Untreue, abzubrechen. »Ich ruf dich bald wieder an.«
Sie legte auf, bevor ich mich verabschieden konnte.
Die zweite Serie Saatguttransporte ging so reibungslos vonstatten wie die erste. Wieder wurde Canaveral von den Medien belagert, aber diesmal verfolgte ich das Ereignis auf einer großen Digitalprojektion im Perihelion-Auditorium. Es war ein Start bei Sonnenschein, und er ließ die Reiher in den Himmel über Merritt Island flattern wie helles Konfetti.
Ein weiterer Sommer des Wartens. Die europäische Weltraumbehörde ESA platzierte eine Reihe orbitaler Teleskope und Interferometer im Weltraum, und im September waren sämtliche Büros bei Perihelion mit hochauflösenden Bildern unseres Erfolges tapeziert. Ich rahmte mir eines davon für das Wartezimmer: eine farbgenerierte Wiedergabe des Mars, ein Ausschnitt, der Olympus Mons als eisige Silhouette zeigte, durchschnitten von frischen Entwässerungskanälen; Nebel, der wie Wasser durch Valles Marineris floss, grüne Kapillaren, die sich über Solis Lacus schlängelten. Das südliche Hochland der Terra Strenum war immer noch Wüste, aber die Krater dieser Region waren unter dem Einfluss eines feuchteren, windigeren Klimas fast bis zur Unsichtbarkeit erodiert.
Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre schwankte einige Monate lang, weil die Population der aeroben Organismen mal wuchs, mal wieder schrumpfte, aber im Dezember hatte er zwanzig Millibar überschritten und stabilisierte sich. Inmitten einer potenziell chaotischen Mischung von Treibhausgasen, eines instabilen hydrologischen Kreislaufs und neuartiger biogeochemischer Rückkopplungsschleifen entdeckte der Mars sein ureigenes Gleichgewicht.
Die positiven Meldungen taten Jason gut. Die Remission dauerte an, und er warf sich in einen fröhlichen, fast therapeutischen, Arbeitsstress. Wenn er überhaupt Grund zum Verdruss sah, dann wegen der medialen Darstellung seiner Person als ikonenhaftes Genie der Perihelion-Stiftung, als wissenschaftliche Berühmtheit, als Aushängeschild für die Umwandlung des Mars. Dies ging mehr auf E. D.s Wirken als auf sein eigenes zurück: E. D. wusste, dass die Öffentlichkeit Perihelion mit einem menschlichen Gesicht verbinden wollte, einem vorzugsweise jungen Gesicht, klug, aber nicht einschüchternd, und schon zu Zeiten, da Perihelion nicht mehr als eine Raumfahrt-Lobbygruppe war, hatte er Jason beharrlich vor jede Kamera geschoben. Jason fand sich damit ab – er besaß ein Talent für anschauliche und geduldige Erklärungen und er war einigermaßen fotogen –, aber er hasste die ganze Prozedur und verließ lieber den Raum, als dass er sich im Fernsehen sah.
Dies war das Jahr der ersten unbemannten NEP-Flüge, die Jason mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Es ging um die Schiffe,
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