Spin
eine Sekunde vor.
Nein, ich mach es. Achtung: ein-und-zwan-zig. Eine Sekunde. Klar?«
»Jason…«
»Hab ein bisschen Geduld. Über das Spin-Verhältnis bist du dir im Klaren?«
»So ungefähr.«
»Ungefähr reicht nicht. Eine terrestrische Sekunde entspricht 3,17 Jahren Spin-Zeit. Falls also eine unserer Raketen nur eine Sekunde nach den anderen in die Spin-Membran eintritt, erreicht sie die Umlaufbahn mehr als drei Jahre zu spät.«
»Nur weil ich bestimmte Zahlen nicht aufsagen kann…«
»Wichtige Zahlen, Diane. Angenommen, unsere Flotte ist gerade aus der Membran herausgekommen, genau jetzt.« Er stieß einen Finger durch die Luft. »Eine Sekunde, hier und weg. Für die Flotte waren das drei Jahre und ein paar Zerquetschte. Vor einer Sekunde waren sie in der Erdumlaufbahn, jetzt haben sie ihre Fracht auf der Marsoberfläche abgeliefert. Ich meine jetzt, Diane, buchstäblich jetzt, in diesem Augenblick. Es ist schon geschehen, es ist vollbracht. Lass also eine Minute auf deiner Uhr vergehen. Das wären ungefähr hundertneunzig Jahre auf einer Uhr dort draußen.«
»Das ist natürlich eine Menge, aber du kannst einen Planeten nicht in zweihundert Jahren völlig umwandeln, oder?«
»Im Moment läuft unser Experiment also seit zweihundert Spin-Jahren. In diesem Augenblick, beziehungsweise gerade eben, haben diejenigen bakteriellen Kolonien, die die Reise überlebt haben, sich seit zwei Jahrhunderten auf dem Mars fortgepflanzt. In einer Stunde werden sie seit elftausendvierhundert Jahren dort gewesen sein. Morgen um diese Zeit werden sie sich seit fast zweihundertvierundsiebzigtausend Jahren vermehrt haben.«
»Okay, Jase, ich begreife das Prinzip.«
»Nächste Woche um diese Zeit, 1,9 Millionen Jahre.«
»Okay.«
»In einem Monat, 8,3 Millionen Jahre.«
»Jason!«
»Nächstes Jahr um diese Zeit, einhundert Millionen Jahre.«
»Ja, aber…«
»Auf der Erde sind hundert Millionen Jahre ungefähr die Zeitspanne zwischen dem Hervortreten des Lebens aus dem Meer und deinem letzten Geburtstag. Einhundert Millionen Jahre reichen für diese Mikroorganismen aus, um Kohlendioxid aus den Kohlensäureablagerungen in der Kruste zu pumpen, Stickstoff aus Nitraten auszulaugen, Oxide aus dem Regolith freizusetzen und es anzureichern, indem sie in großen Massen sterben. Das freigesetzte CO 2 wirkt als Treibhausgas. Die Atmosphäre wird dichter und wärmer. In einem Jahr schicken wir eine Armada aus atmenden Organismen, und die werden damit beginnen, CO 2 in freien Sauerstoff umzuwandeln. Nach einem weiteren Jahr – oder sobald wir die entsprechende Spektralsignatur erkennen – führen wir Gräser, Pflanzen, andere komplexe Organismen ein. Und wenn sich auf diese Weise so etwas wie eine grob homöostatische planetarische Ökologie stabilisiert, schicken wir Menschen los. Weißt du, was das bedeutet?«
»Sag es mir«, sagte Diane missmutig.
»Es bedeutet, dass es innerhalb von fünf Jahren eine blühende menschliche Zivilisation auf dem Mars geben wird. Farmen, Fabriken, Straßen, Städte…«
»Dafür gibt es ein griechisches Wort, Jase.«
»Ja, Ecopoiesis.«
»Ich hatte mehr an ›Hybris‹ gedacht.«
Er lächelte. »Ich mache mir über vieles Gedanken. Aber ganz gewiss nicht darüber, ob ich gegen die Götter frevle.«
»Oder gegen die Hypothetischen?«
Das ließ ihn innehalten. Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von seinem schon etwas abgestandenen Champagner. »Ich habe keine Angst, sie gegen mich aufzubringen«, sagte er schließlich. »Im Gegenteil. Wir tun vielleicht genau das, was sie von uns erwarten.«
Er erklärte sich nicht weiter dazu, und Diane nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
Am nächsten Tag fuhr ich Diane nach Orlando, wo ihr Flugzeug nach Phoenix wartete.
Im Verlauf der letzten Tage war klar geworden, dass von der körperlichen Intimität, die wir in jener Nacht in den Berkshires, vor ihrer Heirat mit Simon, geteilt hatten, nicht mehr die Rede sein würde, weder in Andeutungen noch gar explizit. Gewürdigt wurde dieses Thema allenfalls in den halsbrecherischen Kapriolen, die unsere Unterhaltung mitunter schlagen musste, um es zu umgehen. Als wir uns vor der Sicherheitsschleuse des Flughafens ungelenk umarmten, sagte sie:.»Ich ruf dich an«, und ich wusste, sie würde es auch tun – Diane machte wenige Versprechungen, nahm es mit diesen jedoch sehr genau –, aber ebenso war mir bewusst, wie viel Zeit vergangen war, seit ich sie zuletzt gesehen hatte,
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