Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
das war klar. Sie hatte keine Chance. Also kapitulierte sie, stand auf und zog ihren Mantel an.
Als sie die Tür aufmachte, starrte Antje sie entgeistert an. »Wie siehst du denn aus? Völlig verschmiert, hast du geflennt?«
»Ne, ich schmink mich unterwegs, ich hab alles dabei.« Sie klopfte auf ihre Handtasche.
»Wenn wir Glück haben, schaffen wir es noch, also mach!« Antje drehte sich mit einem Ruck um und ging voraus zum Parkplatz. Sarah trödelte hinterher.
Antje wirkte wie eine Powerfrau, wie jemand, den nichts umhaut, frech und burschikos mit jeder Menge Chuzpe. In Wirklichkeit war sie aber ein Sensibelchen erster Ordnung und konnte wunderschöne abstrakte Bilder malen. Bevor die Krankheit bei ihr ausbrach, war sie Schwimmerin gewesen, hatte richtig trainiert, für den Olympiakader. Aber dann war mit einem Mal alles vorbei. Einen Rest der Muskeln hatte sie immer noch.
Sie wartete am Auto auf Sarah, die provokant langsam ging und sich beim Einsteigen alle Zeit der Welt ließ.
»Verdammt, reiß dich jetzt zusammen!« Antje knallte die Tür des knallgelben Twingo zu, drehte den Zündschlüssel um und schaltete den CD-Spieler ein. Robbie Williams brüllte auf voller Lautstärke »I got so much love…«. Die Soundanlage in dem kleinen Auto war gigantisch, der ganze Kofferraum war voller Boxen. Die Bässe fuhren Sarah direkt in den Bauch. Ihr wurde schlecht. Wenn sie noch was im Magen gehabt hätte, hätte sie sofort aufs Armaturenbrett gekotzt.
Die Fahrt über die Serpentinen Richtung Autobahn war die Hölle. Antje nahm nicht die geringste Rücksicht. Sie fuhr, als ginge es darum, eine Bergrallye zu gewinnen. Erst als sie endlich auf der Autobahn nach Zürich waren, konnte Sarah wieder aufatmen. Aber kaum hatte sie sich entspannt im Sitz zurückgelehnt, klingelte ihr Telefon. Sie fummelte das Ding aus ihrer Tasche und klappte es auf. Es war ihre Mutter.
»Ja?« Sie hörte, wie ihre Mutter am anderen Ende der Leitung einen tiefen Lungenzug nahm und den Rauch mit großem Druck energisch wieder ausstieß.
»Warum hast du nicht angerufen?« Sarah spürte den Vorwurf in der Stimme ihrer Mutter und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Das hatte ihre Ma drauf, sie beherrschte den tödlichen Einsatz von Nuancen. Dünn wie eine aufs Extrem geschliffene Klinge und genauso gefährlich.
»Ich war bis jetzt mit Antje draußen unterwegs …« Antje sah sie mit einem strengen Blick von der Seite an und zeigte ihr damit, dass sie diese Lüge scheiße fand.
»Sonst hast du immer Samstagnachmittag angerufen.« Der Vorwurf wurde stärker.
»Ich hab grade an dich gedacht und wollte grad anrufen«, log Sarah weiter.
»Und was ist mit Berlin?«
»Wie meinst du das, was ist mit Berlin?«
»Es war ein Brief im Briefkasten, an dich, von der Universität Berlin.«
»Na und.«
»Du hast dir Einschreibungsunterlagen schicken lassen.« Sarah schnürte es den Hals zu.
»Wie kommst du dazu, den Brief einfach aufzumachen!?«
»Du bist seit Wochen weg und ich dachte, es ist etwas Wichtiges! Also hab ich ihn aufgemacht, was ist dabei? Außerdem hab ich recht gehabt. Du musst die Unterlagen bis übernächste Woche einreichen, sonst ist es zu spät!«
»Scheiße, ich find das scheiße, dass du einfach meine Post aufmachst.« Sarahs Mutter gab keine Antwort und fing stattdessen, wie es oft ihre Art war, ein neues Thema an.
»Was machst du grade?«
»Ich bin auf dem Weg nach Zürich.«
»Wo trefft ihr euch?« Die Lungenzüge waren jetzt kürzer und irgendwie fahriger. Sarah konnte die Nervosität ihrer Mutter spüren.
»In irgendeinem Hotel.« Während sie es aussprach, kam ihr der Satz auf eine verdrehte Art verfänglich vor und sie fügte schnell hinzu: »In der Lobby.«
»Lass dich nicht von ihm um den Finger wickeln. Er kann sehr charmant sein, auf den ersten Blick.«
Sarah wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, und dachte nach, was dieser Satz wohl zu bedeuten hatte. Sie verlor den Gedanken aber irgendwo im Nichts und konzentrierte sich auf den Atem ihrer Mutter in dem winzigen Lautsprecher an ihrem Ohr.
»Ich will nur verhindern, dass er dir wehtut, Liebes, so wie er mir wehgetan hat, du darfst mich nicht falsch verstehen«, setzte ihre Mutter hinzu.
»Ich versteh dich doch. Ich will ihn mir ja auch nur mal anschauen, damit ich einen Schlussstrich unter das Ganze ziehen kann, was ist denn dabei, wenn ich mir meinen Vater mal anschaue?« Das Wort »Vater« aus ihrem Mund kam ihr extrem seltsam vor,
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