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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Erkenntnis. Und wenn er an die immense Zahl der Affengehirne dachte, die bis heute auf dem Weg der Erforschung des Gehirns geopfert, ja verstümmelt worden waren, wurde ihm übel.
    Draußen im Gang machte er Stopp am Wasserautomaten, zog sich einen Becher, füllte ihn mit Wasser und ging trinkend eine Weile auf und ab. Er brauchte noch ein paar Minuten, bevor er in der Lage war, sich dem Problem zu stellen. Wie unangenehm ihm das alles auch war, es gab keine Chance, davor wegzulaufen, jedenfalls nicht für ihn. Mit dieser Erkenntnis drückte er die Ruftaste.
    Sein Vater meldete sich mit einer vollkommen verzweifelt klingenden Stimme. Und diese Verzweiflung übertrug sich ohne Delay. Paul spürte, wie ein Kloß aus Mitleid in seinem Hals zu wachsen begann. Wie immer öfter in letzter Zeit hatte sein Vater sich auf dem Weg in sein Stammcafe verirrt und fand nicht mehr nach Hause zurück. Seine Worte waren konfus. Es war zu spüren, wie viel Kraft es ihn kostete, die Worte zu formen, mit denen er versuchte, auszudrücken, was los war. Er stammelte, und in diesem Stammeln drückte sich der ganze Schmerz aus, den er über seine eigene Hilflosigkeit empfand, den er darüber empfand, das jeder Tag ein bisschen mehr Abschied war, ein bisschen weiter in Richtung völlige Hilflosigkeit und Vergessen führte.
    Die Situation traf Paul wie ein rostiges Messer, das sich langsam in seinen Bauch grub, langsam Zentimeter um Zentimeter hinein eiterte. Geduldig ließ er sich beschreiben, wo sein Vater war. Als ihm klar war, wo er ihn finden würde, schärfte er ihm wie einem kleinen Kind ein, dort auf ihn zu warten und auf keinen Fall wegzulaufen. Sein Vater schien ihn zu begreifen, aber redete so wirr, dass Paul noch Minuten brauchte, um ein Ende zu finden, das es ihm erlaubte aufzulegen.
    Er ging ins Labor zurück, checkte noch einmal das Setup des Experiments und kontrollierte die ersten Ergebnisse. Dann überließ er alles Weitere seinen Assistenten und verließ das Institut.
    Es war Rush Hour. Bis zu seinem Vater würde er bestimmt eine Ewigkeit brauchen. Er versuchte, trotzdem cool zu bleiben und die Ruhe im Auto zu genießen. Der Stop-und-Go Verkehr war auch eine Art Galgenfrist, bevor er wieder massiv mit der Krankheit seines Vaters konfrontiert werden würde.
    Plötzlich war Ende, nichts ging mehr, kein Zentimeter. Die verrinnenden Minuten stellten seinen Versuch, gelassen zu bleiben, auf eine harte Probe. Er hätte aussteigen und zu Fuß weiter gehen können, aber die nächste S-Bahn Station war gut sieben bis acht Kilometer weit weg. Sinnlos, auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hätte es noch Stunden gedauert, um zu seinem Vater zu kommen. Er versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, aber kriegte immer nur das verdammte »the person you called is temporarily unavailable«. Was konnte das bedeuten? Hatte sein Vater das Telefon nach ihrem letzten Gespräch einfach ausgeschaltet oder hatte er es einfach irgendwo hingelegt und vergessen oder fallen gelassen, in einen Gully oder vor ein Auto? Alles war möglich. Aber was auch immer passiert war, er konnte jetzt nichts dagegen tun. Er war in seinem Auto gefangen und musste das akzeptieren.
    »Egal, ob du zu spät kommst oder nicht«, sagte er halblaut vor sich hin, so als könne er dem Gedanken dadurch mehr Kraft geben, »...egal, du kannst nicht dein ganzes Leben für deinen Vater opfern und dich wie ein siamesischer Zwilling an ihn ketten, um mit ihm zu leiden. Das ist nicht möglich! Nicht mit deiner gigantischen Sehnsucht nach Freiheit. Wie sollte das gehen? Niemand kann alles Leid der Welt tragen, niemand! Und du, du kannst nicht einmal das Leid deines Vaters tragen, nicht einmal einen Teil davon!« Er fing laut zu schreien an, wie von Sinnen, bis er nicht mehr konnte und wieder ruhiger wurde. Er warf einen Blick auf die Autos neben sich. Die Fahrer starrten alle vor sich hin, gleichgültig, traurig, müde. Niemand hatte es bemerkt, niemand war auf ihn aufmerksam geworden. Er ließ sich in den Sitz sinken und schloss die Augen. Er konnte nicht das ganze Leid tragen, nein, auch auf die Gefahr hin, falsch zu handeln. Er würde sich Hilfe suchen, jemanden, der ihm half, seinen Vater zu versorgen, professionelle Hilfe. Jemanden, der resistenter war gegen den Anblick seines Leids, jemand fremden.
    Er wurde ein bisschen müde, angenehme Müdigkeit. Seine Gedanken begannen wahllos zu treiben. Was, wenn da vorne am Ende der Schlange die Reiter der Apokalypse aufgetaucht waren,

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