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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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gekommen war. Sie war eine korpulente Frau Ende 50 und die Witwe eines rheinischen Fabrikanten, deren Tochter in Cleveland, Ohio, verheiratet war. Bereits nach zwei Tagen besaß ich einen vollständigen Überblick über ihr Leben, das mir trotz seiner Höhen und Tiefen nicht so interessant erschien, um es im Gedächtnis zu behalten. Immerhin erreichte sie mit ihrer lockeren und kumpelhaften Art, dass ich in einer für mich ungewohnt offenen Weise über meine Person, meinen Beruf und – in dem Umfang, in dem es mir meine anwaltliche Verschwiegenheitspflicht erlaubte – auch über den Anlass meiner Reise in die Vereinigten Staaten Auskunft gab.
    »Ich bin oft in der Hauptstadt«, sagte Frau von Tryska am Abend des zweiten Reisetages, während wir bei Hummersuppe, Seezungenfilet in zerlassener Butter mit Kartoffeln und Waldorfsalat beieinander saßen. »Wo befindet sich denn Ihre Kanzlei?«
    »In Berlin Mitte, nahe Unter den Linden«, erwiderte ich vage, kam aber nicht umhin, ihr die genaue Adresse der Kanzlei zu nennen, worauf sie in der Art mancher Touristen aus der Provinz, die den Einheimischen gern wissen lassen, wie gut sie sich in dessen Heimatstadt auskennen, erklärte: »Wenn ich in der Hauptstadt bin, logiere ich im Aranerhof; der liegt auch in der Friedrichstadt, nahe dem Spittelmarkt, kaum mehr als 500 Meter von Ihrer Kanzlei entfernt.«
    Wir waren beim Dessert angelangt. Während ich nur noch mit halbem Ohr dem nicht versiegen wollenden Redefluss meiner Tischnachbarin zuhörte, schweifte mein Blick über die Tischreihen und ich erkannte ganz in der Nähe die Frau vom Abend der Abreise.
    Es war nicht wie so oft, wenn der zweite Blick ernüchternd wirkte; nein, diese Frau war die Schönheit in Vollendung und verkörperte geradezu ein fleischgewordenes Ideal.
    Ihr schmales Gesicht war von dichten kastanienfarbenen Locken umrahmt; sie hatte dunkelgrüne Augen, eine klassisch gerade Nase und einen sinnlichen Mund. Das graue Kostüm, das sie kleidete, wirkte unauffällig, doch hätte sie Säcke tragen können und darin nicht weniger anziehend gewirkt. Der strahlend durchscheinende makellose Teint, die schlanken langgliedrigen Hände mit den eleganten Gelenken, die aus den Ärmeln ihrer Kostümjacke vorsprangen und bereits das Ebenmaß der bedeckten Teile ihres Körpers ahnen ließen, ihre Haltung, ja, schon die Art, wie sie Messer und Gabel bewegte, die Grazie, die sich auf die angemessene und leichteste Weise jeder ihrer Bewegungen und Stellungen mitteilte, sodass sie der natürliche Ausdruck aller ihrer Absichten war, weckten den sehnsüchtigen Wunsch in mir, noch viel mehr von ihr zu sehen.
    Sie war mindestens 20 Jahre jünger als der Mann, der ihr gegenübersaß. Dieser war zu meiner Gewissheit nicht derselbe Mann, mit dem ich sie vor dem Ablegen des Schiffes an der zur See gelegenen Bordwand gesehen hatte. Seine Erscheinung war eigentlich nicht bemerkenswert, sondern erregte mein Interesse nur, weil er gewissermaßen am Glanz seiner Begleiterin partizipierte. Das Gesicht des Mannes erschien mir vertraut, obwohl ich es nirgendwo zuordnen konnte. Er hatte die 50 überschritten und besaß markante und fein geschnittene Züge, auf denen der erste Schatten gut verlebter Jahre lag. Er wirkte so groß wie wohlbeleibt, letzteres jedoch nicht von der Anlage her, sodass man annehmen konnte, er wäre ein leidenschaftlicher und guter Esser und Trinker.
    »Ich gebe ja zu, dass sie gut aussieht«, raunte neben mir am Tisch Frau von Tryska, »aber Sie brauchen die Ärmste doch nicht so anzustarren, als hätten Sie sie in Gedanken bereits ausgezogen.«
    »Entschuldigen Sie!«, sagte ich und wandte den Blick ab. »Sie haben natürlich vollkommen recht, mich zu tadeln, allerdings wüsste ich nicht, wie man sie anders anschauen sollte.«
    Frau von Tryska nahm meine flapsige Bemerkung mit einem Lächeln auf und beugte sich ein Stück vor. »Kennen Sie ihn nicht?«
    »Wen? Sie meinen den Herrn? Nein!«
    »Es ist der Filmschauspieler Gustav Helmholtz.«
    Ich sah wieder hin und blieb eine Weile still. »Richtig, jetzt, wo Sie es sagen.«
    Und ohne dass ich sie fragen musste, fügte sie mit einem beiläufigen Achselzucken, aber mit bedeutungsvoll blitzenden Augen hinzu: »Sie kenne ich nicht. Doch keine Sorge! Ich werde schon herausbekommen, wer sie ist. Lassen Sie mich nur machen!«

3
    Die Brise, die am nächsten Tag über das Sonnendach strich, war beinahe warm, und so ließ ich mir vom Decksteward einen Liegestuhl zuweisen

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