Spittelmarkt
nicht leisten, das Angebot unseres treuen Freundes in den Wind zu schlagen«, schaltete sich Haller ein und richtete den eindringlichen Blick seiner kleinen bebrillten Augen auf mich. Er war ein Mann von 60 Jahren und untersetzter Gestalt, in seinem steifen Auftreten der Prototyp eines deutschen Geschäftsmannes. »Soviel ich weiß, beherrschen Sie doch ein ganz ausgezeichnetes Englisch, Herr Goltz!«
Haller hatte natürlich recht. An der Sache hing eine ganze Menge Geld, und das Jahr 1932 war bisher kein gutes Jahr gewesen. Mehr als je zuvor waren wir auf Arnheims lukrative Mandate angewiesen. Es sprach nichts dagegen, dass ich die Reise unternahm – das Einzige, was mich störte, war der Umstand, dass ich ungern Interessen vertrat, die gegen Florence Arnheim gerichtet waren. Ich kannte Florence besser als ihren Ehemann. In einem Scheidungsverfahren hätte ich daher lieber sie als ihren Gatten vertreten.
Arnheim sah mich aufmunternd an. »Also, sagen Sie schon zu, mein lieber Herr Goltz, dass Sie für mich diese kleine Reise unternehmen werden! Ich habe rein vorsorglich eine Schiffspassage für die übernächste Woche reservieren lassen. Können Sie das einrichten?«
Es gab sowieso keine Möglichkeit, das Mandat abzulehnen. Und ehrlicherweise wollte ich es auch nicht. Obwohl ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass Arnheim mir irgendetwas verschwieg, verspürte ich plötzlich Reiselust und das Bedürfnis, dem grauen Alltag einmal für zwei, drei Wochen zu entfliehen.
»Gut! Abgemacht!«, sagte ich. »Übernächste Woche! Sie können die Passage für mich buchen.«
Arnheim und Haller strahlten bis über beide Ohren, als hätten sie gerade in der Lotterie das große Los gezogen, und Arnheim drückte mir vor Freude die Hand. »Sie werden bald sehen, dass ich Ihnen nicht zu viel versprochen habe«, erklärte er. »Der Atlantik ist dem Reisenden nie günstiger als um diese frühherbstliche Jahreszeit. Die Reise wird ganz und gar unvergesslich für Sie werden.«
Mit Letzterem sollte er richtig liegen, ebenso mit seiner Prognose in Bezug auf das Wetter. Im Übrigen würde alles ganz anders kommen, als es sich zunächst den Anschein gab. So manches Mal sollte ich mich fragen, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, hätte ich an diesem Tage eine andere Entscheidung gefällt.
»Ich nehme Sie beim Wort«, verabschiedete ich ihn. Arnheim wünschte mir angenehme Tage und versprach, mir die nötigen Reiseunterlagen und Dokumente rechtzeitig vor der Abfahrt ins Büro bringen zu lassen.
So kam es, dass ich noch am selben Abend in der Buchhandlung um die Ecke einen Baedeker-Reiseführer für New York erstand. Keine zwei Wochen später stieg ich am Lehrter Bahnhof in Berlin in einen Zug, der mich nach Bremerhaven brachte.
2
Ich bestieg die ›Bremen‹, das Vorzeigeschiff des Norddeutschen Lloyd, einen Ozeanliner mit zwei Schloten und fünf Signalhörnern, der schon bei Einbruch der Dämmerung unter voller Beleuchtung an der Columbuskaje von Bremerhaven lag. Das Schiff strahlte Kraft und Seetüchtigkeit aus, ließ jedoch Grazie und Schönheit gänzlich vermissen, und je länger ich vom Land aus den Liner betrachtete, umso mehr verstärkte sich in mir der Eindruck, dass dieser Dampfer trotz seines lang gestreckten niedrigen Profils ein untersetztes, nahezu boshaftes Aussehen besaß.
Die ›Bremen‹ sollte Deutschland am Abend verlassen. Nachdem ich meine Kabine bezogen, mein Gepäck verstaut und mich etwas ausgeruht hatte, begab ich mich an Deck, um die Abfahrt des großen Schiffes zu verfolgen.
Auf der Columbuskaje hatte eine Musikkapelle Aufstellung genommen. Matrosen zogen die Landungsstege ein. Zwischen den Menschen, die unten standen und denen oben, wechselten Rufe, Wünsche und Abschiedsgrüße hin und her. Zudem gab es vielerorts Tränen. Da sich das Ablegemanöver in die Länge zog, wechselte ich zur Seeseite hinüber, wo es stiller zuging, indessen die dahinter liegende See dunkel und unruhig war. In der Ferne erblickte ich Lichter, unbewegte, die man wohl einem Leuchtturm oder einer anderen befestigten Hafenanlage zuordnen musste.
Es dauerte nicht lange, da wurde meine Aufmerksamkeit auf ein Paar gelenkt, das ein Stück entfernt an der Bordwand stand: eine junge Frau und ein junger Mann, beide in leichte Mäntel gehüllt. Obwohl ich kaum mehr als ihre Umrisse sah, gewann ich den Eindruck, sie beide besäßen anmutige, geschmeidige Gestalten, und sobald die Frau gleich darauf den Kopf in meine Richtung drehte und
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