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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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tun, zu erledigen, zu bewirken. Obwohl der Traum unheimlich und düster gewesen war, überfiel mich beim Gedanken an ihn eine fast brennende Sehn­sucht. Das kannte ich von schönen Träumen, nicht aber von Träu­men wie diesem. Hatte ich überhaupt schon einmal einen so deutli­chen, real wirkenden Traum gehabt?
    Mit Erstaunen stellte ich fest, dass es klappte - ich sah alles wieder exakt so vor mir, wie ich es heute Nacht vorgefunden hatte. Im Traum hatte ich die Szenerie von oben betrachten können und besaß die fantastische Gabe, mich frei und lautlos zu bewegen. Aber ich war wie ein fremder, beobachtender Besucher gewesen. Ich spielte keine Rolle in dem Geschehen. Ich war lediglich da.
    Und ich konnte meine Augen kaum von dem winzigen Säugling abwenden, der auf einem schäbigen, mit rostigen Nägeln zusam­mengesetzten Holzdielenboden in seiner Wiege lag. Nein, es war keine Wiege - es war ein alter Futtertrog, lieblos ausgepolstert mit
    Heu und ein paar schmutzigen Tüchern. Es war kalt. Bitterkalt. Über die schräge, grob gezimmerte Decke zogen sich Eisblumen.
    Das Baby war nur wenige Tage alt. Sein Gesicht war noch ganz zart und die Haut wie aus dünnem Pergament. Ich wusste, wie Neu­geborene aussahen. Papa hatte direkt nach meiner Geburt im Kreiß­saal gefilmt - kurze Aufnahmen von der Hebamme, die mich bade­te, dem glücklichen und erschöpften Gesicht meiner Mutter, dann wieder von mir in meinen allerersten Klamöttchen samt weißem Mützchen auf dem Kopf. Viel geschrien hatte ich nicht, aber man konnte sehen, dass ich verwirrt war und fror, und dauernd versuch­te ich, meine Augen mit meinen winzigen Fäustchen zu verdecken.
    Aber ich war verteufelt hässlich gewesen. Rot und schrumpelig, Ohren und Nase zu groß für den Rest des Kopfes, und auf dem Schädel klebten wie müde Blutegel ein paar schwarze Locken, die wenige Tage nach der Geburt ausfielen und einem braunroten Flaum Platz machten.
    Doch dieses Baby sah anders aus. Seine Haut war rein wie Ala­baster und schimmerte im fahlen Licht des Dachbodens. Es hatte bereits dichte schwarze Haare, die in weichen Wellen vom Kopf ab­standen. Seine Hände, die zu Fäusten geballt und nach oben gewin­kelt neben den Ohren ruhten, waren perfekt - wie Erwachsenen­hände in Miniaturform.
    Das Ungewöhnlichste aber waren seine Augen: schräg und groß und von einer tiefdunklen, schillernden Farbe. Augen wie Edelstei­ne. Das Baby regte sich nicht. Es blickte bewegungslos und mit ei­nem engelhaft ruhigen Gesichtsausdruck zur Dachluke hinaus, di­rekt in den Wintervollmond, der über dem Haus wachte und die karge Schneelandschaft mit einem schwachen bläulichen Licht überzog. Und obwohl es so kalt war und die Brust des Babys sich langsam, aber regelmäßig hob und senkte, bildeten sich keine Atem­kristalle vor seiner Nase.
    Wo waren die Eltern?, hatte ich mich im Traum gefragt. Wer legte sein Baby allein und schutzlos in der Kälte ab? Wie es nur in Träu­men möglich ist, war ich lautlos und unbemerkt die Dachstiege hi­nuntergeschwebt und hatte sie gefunden. Sie lagen in einem großen, quadratischen Holzbett; zwischen ihnen und eingekuschelt am Fußende der Frau zwei Kleinkinder, die friedlich und geborgen schlummerten. Der Vater schlief ebenfalls tief und fest. Ich konnte seine Atemzüge deutlich hören.
    Der Ruf eines Käuzchens durchbrach die Stille der Nacht. Die Mutter wälzte sich unruhig auf den Rücken. Ihr Gesicht verzog sich und ein Ausdruck abgrundtiefer Furcht zeichnete ihren Mund. Sie riss die Augen auf - müde, gerötete Augen - und blickte angstvoll auf die Stiege, die hoch zum offenen Dachboden führte, wo ihr Baby alleine schlief, alleine und hilflos und ohne menschliche Wär­me.
    Ich wollte sie fragen, warum sie das Baby nicht zu sich holte, wa­rum es da oben so einsam wach liegen musste. Doch als ich meinen Mund zum Sprechen öffnete, war ich schlagartig aus dem Traum aufgewacht und binnen Sekunden wieder eingeschlafen. Vermutlich war er mir auch deshalb erst jetzt wieder eingefallen.
    Ich wurde nach wie vor nicht daraus schlau. Was mochte der Traum bedeuten? War ich etwa das Baby? Fühlte ich mich von mei­nen Eltern im Stich gelassen? Papa sagte immer, die Empfindungen, die ein Traum nach dem Aufwachen hinterließ, seien der wichtigste Schlüssel zu seiner Deutung. Ich war nach wie vor sauer, aber ver­lassen kam ich mir gewiss nicht vor. Eigentlich verstanden wir uns gut. Jeder ließ den anderen in Ruhe und unsere merkwürdigen

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