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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Ur­laube waren immer friedlich gewesen. Wenn man in die Wildnis fuhr, musste man Zusammenhalten, das hatte ich schnell kapiert. Nein, vernachlässigt fühlte ich mich nicht.
    Das Gefühl, das der Traum in mir auslöste, war viel eher eine  unerklärliche Sehnsucht. Ich wollte noch einmal dorthin zurückkeh­ren, noch einmal in die schimmernden Augen des Babys blicken.
    Nein. Das Baby war nicht ich. Der Traum hatte nichts mit meinem Leben zu tun. Vor allem aber spielte er in einer anderen Zeit. In welcher, konnte ich nicht sagen. Aber in diesem Haus hatte es nur einen Kamin gegeben, in dem ein paar quadratische Ballen vor sich hin glühten. Kein elektrisches Licht oder gar eine Heizung. Zum Leben hatte diese Familie nur das Nötigste gehabt und die Wände bestanden aus zusammengefügten, unregelmäßig großen Steinen.
    Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mein Kopf unsanft gegen die Scheibe schlug. Papa überquerte eine schmale alte Brücke und der Kombi schlingerte wie ein Schiff auf hoher See. Mit müden Augen folgte ich dem trüben Wasser des Bachs und stutzte. Im Di­ckicht erkannte ich eine steinerne Brückenhälfte, dunkelgrün be­wachsen mit Flechten und Moos - eine Ruine. Ich konnte meine Augen nicht so schnell wieder abwenden, wie ich wollte. Ich musste hinsehen. Das war nicht lieblich oder romantisch. Die Ruine sah - ja, sie sah unheimlich aus.
    »Was ist das denn?«, fragte ich neugieriger, als mir lieb war.
    »Oh, hier gab es mal eine Eisenbahnstrecke. Stillgelegt seit den Fünfzigern«, erklärte Papa aufgeräumt. »Nur die Brücken sind noch übrig geblieben.«
    »Also sind die Fluchtwege auch versperrt«, grummelte ich und schloss erneut die Augen. Doch der Traum war nur noch fern, seine Farben verblichen. Jetzt lag das Baby unter der Brückenruine auf dem feuchten, lehmigen Waldboden und ich sah, wie meine weißen Hände nach ihm griffen, es behutsam aufhoben. Es war federleicht. Ich presste mein Ohr fest an den kleinen Leib, um zu hören, ob es noch atmete ...
    »Elisa? Schläfst du schon wieder?«
    »Nein!«, rief ich schnell und löste hastig den Gurt, obwohl ich zu gerne erfahren hätte, wie der Säugling sich in meinen Armen an­fühlte ... Aber wir waren zu Hause. Die zuschlagenden Autotüren hallten in der Stille nach. Niemand außer uns war auf der Straße. Nur hinten, auf dem Feldweg, führte eine alte, bucklige Frau ihren Hund aus. Er drehte sich um und kläffte keifend, als er uns witterte. Wie sollte ich nur den Rest dieses Tages füllen? Was sollte ich um Himmels willen tun, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig war?
    Ich ließ meine Augen über unser Haus schweifen, das ich mir bis jetzt nur flüchtig angesehen hatte - ein hoch aufragender, eckiger Bau mit ausgebautem Giebeldach, großem Hof, Garagenhäuschen und einem riesigen quadratischen Rasenstück. Mama hatte bereits einen Beetstreifen entlang des Zaunes angelegt und unzählige Pflan­zen in den Boden gesetzt. Wilder Wein rankte sich über die gesamte Vorderfront des Hauses und wucherte bis über die verwitterten Lä­den der kleinen Sprossenfenster. Das kannte ich schon aus Köln. Ich erschauerte, als ich an die farblosen Spinnen dachte, die im Weinlaub wohnten und sich ab und zu in mein Zimmer verirrt hatten. Noch waren die Dachfenster frei von Laub, aber die ersten Triebe versuchten schon, sich an den Fenstersimsen festzukrallen.
    Der Garten endete auf der einen Seite direkt am Feld, das sich anhob und an den dunstigen Abendhimmel grenzte, als fiele man nach dieser Steigung ins Nichts. Oben auf der Kuppe reckten vier Apfelbäume ihre dünn belaubten Zweige wie verkrüppelte Hände in Richtung der matten Sonne.
    Die Stille dröhnte in meinen Ohren.
    »Na komm schon, Elisa.« Ich schrak zusammen. Papa stand im­mer noch neben mir.
    »Gefällt es dir denn gar nicht?«, fragte er, als er die Haustür aufschloss.
    »Doch. Es ist nur - nichts. Es ist okay.« Es war wirklich okay. Und den Wein konnte ich ja zurückschneiden.
    »Hallo!«, rief Papa gut gelaunt in den kühlen Flur hinein. Ich fröstelte. »Hab früher Feierabend gemacht! So kann ich dir ein biss­chen im Haus helfen und arbeite heute Nacht.«
    »Schön«, hörte ich Mamas Stimme. Ihr Lockenkopf tauchte vor uns im Halbdämmer des Flurs auf. »Dann ...« Sie stockte, als sie mich hinter Papa bemerkte. »Hallo, Ellie. Da bist du ja endlich.«
    Ich rümpfte die Nase. Es roch durchdringend nach geschmortem Sellerie. Ich ging in die Küche und lupfte den Deckel des

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