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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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anthrazitfarbene Himmel sich blauschwarz verfärbte und die Straßenlampe vor dem Haus in einem ungesun­den Orangerosa ansprang. Mir war regelrecht übel vor Hunger. Seit Freitagabend hatte ich kaum mehr etwas gegessen, und als ich mich aufrichtete, begann das Zimmer vor meinen Augen zu tanzen. Trotzdem stellte ich mich mit einer schnellen Bewegung auf meine tauben Füße, schlüpfte ungeachtet meiner schmerzenden Zehen in die hochhackigen Stiefeletten von heute Nachmittag und warf mir einen Strickmantel über. Sollte ich doch vor Schwäche und Kummer umkippen und Papa mich finden, ohnmächtig und am besten schwer verletzt dazu - so schwer, dass meine Eltern einsahen, mich an den falschen Ort verschleppt zu haben, und alles rückgängig machten. Der Gedanke hatte seinen Reiz. Wenigstens die theoreti­sche Möglichkeit, Grischa noch einmal wiederzusehen ... ihn nur noch einmal anzusehen. Auch wenn er mich nicht sah. Aber hier, hier im Nirgendwo, würde ich ihm niemals mehr begegnen. Es blieb mir nur, von ihm zu träumen.
    Nein. Schluss. Kein Grischa. Grischa gehörte jetzt endgültig der Vergangenheit an und vielleicht war das sogar das einzig Sinnvolle an dieser Zwangsumsiedlung. Ich würde ihn nicht Wiedersehen. Tobias nicht und Grischa auch nicht. Nicht in der Realität und nicht in Gedanken.
    »Bloß kein Rückfall, Ellie«, wies ich mich selbst zurecht. Tagträu­mereien hatte ich mir schon lange verboten. Sie brachten nur wirre Gefühle und die Realität war anschließend umso gnadenloser. Selbstmitleidige Tagträume waren erst recht tabu. Und das mit Gri­scha hatte einfach nur wehgetan. Von ihm zu träumen hatte es meistens nicht besser, sondern nur noch schlimmer gemacht, denn die Kluft zwischen meinen Träumen und dem, was tatsächlich ge­wesen war, verschlang und zermalmte mich jedes Mal brutal aufs Neue.
    Nun gelang es mir nicht mehr, meine Augen unscharf zu stellen, weil ich die Tränen wegblinzeln musste. Ich biss mir in die Faust, um nicht zu weinen, und drehte mich langsam einmal um mich selbst. Vorhin, gleich nach unserer Ankunft, hatte ich mich mehr blind als sehend aufs Bett geworfen und Mama weggeschickt. Sie war so stolz auf all das gewesen, was sie mir hier zeigen wollte - und nun wusste ich, warum. Das Zimmer war riesig. Ein ausgebautes Dachstudio, mindestens viermal so groß wie mein altes Zimmer in Köln. An drei Fronten große Fenster, insgesamt sechs Stück, mit Blick über das ganze erbärmlich kleine Dorf. Das Bett stand gebor­gen unter den Schrägen, aber ich konnte rechts und links nach draußen sehen. Daneben mein Kleiderschrank, am anderen Ende des Raumes die Stereoanlage, eine kleine Couch, unter zweien der Fenster mein Schreibtisch. Und zwischendrin genug Platz für ein geselliges Tanzkränzchen.
    Ich fand es tatsächlich schön. Zwar zu leer und zu groß, aber ir­gendwie heimelig. Meine Schritte hallten nicht, wahrscheinlich we­gen der Schrägen und der schweren alten Bodendielen, die mit flau­schigen bunten Flickenteppichen ausgelegt waren.
    Und trotzdem konnte ich immer noch nicht glauben, dass sie es wirklich getan hatten, dass sie mich aus meinem Leben gerissen und hierher aufs Land verschleppt hatten und das jetzt mein neues Zu­hause war - es hätte einfach nicht sein müssen. Nicht ein Jahr vor meinem Abitur. So lange hätten sie noch warten können. Nur dieses eine Jahr. Davon wäre doch niemand umgekommen.
    Einen Sommer. Einen Winter. Und noch einen wahrscheinlich viel zu kalten Frühling. Dann konnte ich hier wieder weg. Das muss­te ich durchstehen, irgendwie.
    Vielleicht sollte ich Nicole anrufen. Oder Jenny. Ich glaubte nicht, dass sie mich vermissten; sie wussten schon lange, dass ich wegzie­hen würde, und in den vergangenen Wochen schien es, als hätten sie sich bereits damit abgefunden. Ich war ständig mies gelaunt und so trafen sie sich auch ohne mich. Trotzdem. Eine vertraute Stimme - einfach nur Hallo sagen. Ich angelte mein Handy aus der Jackenta­sche. »Kein Empfang«, leuchtete es mir vom Display entgegen. Kein Empfang?
    »Scheiße«, fluchte ich und lief in die andere Ecke des Studios. Immer noch kein Empfang. Nicht mal ein kleiner Streifen auf der Funkanzeige. Ich war abgeschottet. Einen kurzen, schmerzhaften Moment lang dachte ich an Tobias, der mich am Wochenende plötzlich wehmütig angeschaut und nach meiner Handynummer gefragt hatte - ach, es hätte sowieso nichts werden können, ich hier, er in Köln, beide ohne Auto. Zum ersten Mal hatte sich

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