Tender Bar
| EINER VON VIELEN
Wir gingen hin, weil wir dort alles bekamen. Wir gingen hin, wenn wir Durst hatten, versteht sich, aber auch wenn wir hungrig waren oder hundemüde. Wenn wir glücklich waren, gingen wir hin, um zu feiern, wenn wir traurig waren, um Trübsal zu blasen. Nach Hochzeiten und Begräbnissen gingen wir hin, um unsere Nerven zu beruhigen, und vorher, um uns schnell Mut anzutrinken. Wir gingen hin, wenn wir nicht wussten, was wir brauchten, in der Hoffnung, jemand könnte es uns sagen. Wir gingen hin, wenn wir Liebe suchten oder Sex oder Ärger oder wenn jemand verschwunden war, denn früher oder später tauchte dort jeder auf. Vor allem aber gingen wir hin, um uns finden zu lassen.
Die Liste meiner persönlichen Nöte war lang. Als vom Vater verlassenes Einzelkind brauchte ich eine Familie, ein Zuhause und Männer. Vor allem Männer. Ich brauchte Männer als Mentoren, Helden, Vorbildfiguren und als Gegengewicht zu meiner Mutter, Großmutter, Tante und fünf Cousinen, mit denen ich zusammenlebte. Die Bar verhalf mir zu all den Männern, die ich brauchte, und auch zu einem oder zwei, auf die ich gut hätte verzichten können.
Die Bar rettete mich, lange bevor ich offiziell trinken durfte. Sie gab mir meinen Glauben zurück, als ich ein Junge war, hütete mich als Teenager, und als junger Mann nahm sie sich meiner an. Und obwohl ich fürchte, dass wir uns zu dem hingezogen fühlen, was uns verlässt oder was uns höchstwahrscheinlich verlassen wird, bin ich letztlich überzeugt, dass wir von dem geprägt werden, was zu uns steht. Natürlich stand auch ich zu der Bar, bis sie mich eines Abends abwies, und durch diesen endgültigen Verzicht rettete sie mir das Leben.
An jener Ecke war schon immer eine Bar mit dem einen oder anderen Namen, seit dem Anfang der Zeit oder dem Ende der Prohibition, das lief aufs Gleiche hinaus in meiner schwer trinkenden Heimatstadt – Manhasset auf Long Island. In den 1930ern war die Bar ein Zwischenstopp Mr Filmstars, die unterwegs waren zu ihren nahe gelegenen Jachtclubs und schicken Feriendomizilen. In den 1940ern war sie ein Hafen für aus dem Krieg heimkehrende Soldaten. In den 1950ern ein Lokal Mr Halbstarke und ihre Freundinnen in Petticoats. Aber zu einem Wahrzeichen, einem Flecken heiliger Erde wurde die Bar erst 1970, als Steve den Laden kaufte und in Dickens umbenannte. Ober den Eingang hängte er ein Schattenbild von Charles Dickens, darunter schrieb er in altenglischer Schrift: Dickens .
Eine derart krasse Zurschaustellung von Englandfreundlichkeit passte nicht jedem Kevin Flynn und Michael Gallagher in Manhasset. Sie nahmen es nur hin, weil ihnen Steves Grundregel der Bar sehr entgegenkam: Jedes dritte Getränk umsonst. Hilfreich war außerdem, dass Steve sieben oder acht Mitglieder des O’Malley-Clans als Hilfskellner beschäftigte und er sich große Mühe gab, das Dickens so aussehen zu lassen, als wäre jeder Stein aus dem County Donegal hierher transportiert worden.
Steve wollte seiner Bar den Anstrich einer europäischen Gaststätte vermitteln, sie aber im Kern amerikanisch belassen, ein grundehrliches Haus für die Öffentlichkeit. Seine Öffentlichkeit. Im Herzen von Manhasset, einer idyllischen Vorstadt mit achttausend Einwohnern, siebenundzwanzig Kilometer südöstlich von Manhattan gelegen, wollte Steve einen Ort der Geborgenheit schaffen, an dem seine Nachbarn, Freunde, Mittrinker und vor allem seine Kumpel von der Highschool, die aus Vietnam zurückkehrten, ein Gefühl von Sicherheit und Heimkehr genießen konnten. Bei jeder Geschäftsidee vertraute Steve auf Erfolg – Vertrauen war seine angenehmste Eigenschaft und seine tragische Schwäche –, doch das Dickens übertraf seine kühnsten Erwartungen. In Manhasset galt Steves Bar bald als die Bar. So wie wir New York »die City« nannten und die Wall Street »die Street«, sagten wir immer »die Bar«, und es gab nie den geringsten Zweifel, welche Bar wir meinten. Dann wurde das Dickens unmerklich etwas mehr als nur die Bar. Es wurde der Ort, die bevorzugte Herberge in allen Stürmen des Lebens. Als 1979 der Atomreaktor auf Three Mile Island schmolz und die Angst vor einer Apokalypse den Nordosten erfasste, riefen viele Einwohner Manhassets bei Steve an, um sich einen Platz im luftdichten Keller unter seiner Bar zu reservieren. Natürlich hatten alle ihren eigenen Keller. Doch das Dickens war einfach etwas Besonderes. Sobald ein Jüngstes Gericht drohte, dachten die Leute zuerst an die
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