Splitternest
einen Krebs, der mit Goldfaden in das Leder gewirkt war.
»Ich komme mit dir. Zwar bin ich noch nie auf dem Gipfel gewesen, aber ich fürchte die Klaue des Winters nicht.« Er klopfte sich den Schnee vom Mantel.
Der Priester verzog abschätzig den Mund. »Talomar Indris! Ich hätte es mir denken können.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Candacarer und ein ganatisches Grafensöhnlein – welch seltsames Paar, das uns vor den Goldéi retten will. Nun, was macht es schon? Arocs tapferste Söhne sind gefallen, und der feige Auswurf schickt zwei Fremde zum Nacken empor, weil er es selbst nicht wagt.«
»Wagt Ihr es denn, Priester?« höhnte der junge Mann. »Seit Euch in der vergangenen Woche drei Priester auf dem Gipfel abhanden gekommen sind, ist kein Kirchenmann mehr zur Klaue des Winters emporgestiegen. Seid also vorsichtig mit Euren Belehrungen.«
Gubyr schmunzelte. »Gut gesprochen, Talomar. Nun lass diese Ratte stehen und komm. Der Aufstieg dauert mehrere Stunden. Vor Anbruch der Dunkelheit müssen wir oben sein, wenn wir die Flotte der Echsen abfangen wollen.«
Er löste die Schwertscheide vom Gürtel und reichte die Waffe einem nahe stehenden Ritter. Dann machte er eine Geste in Richtung des Priesters. Die Männer verstanden. Sie packten den Mann, zwangen ihn auf die Knie und fesselten ihn. All sein Fluchen nutzte ihm wenig. Er würde nicht der letzte Diener Tathrils sein, der an diesem Tag in Ketten endete.
Gubyr und Talomar hatten sich unterdessen dem Berg zugewandt. Ein Pfad führte zwischen den vereisten Felsbrocken aufwärts.
»Ich weiß nicht, ob wir lebend zurückkehren«, sagte Gubyr ernst. »Und ich kenne dich kaum, Talomar. Kann ich mich dort oben auf dich verlassen? Jeder falsche Schritt bedeutet den Tod.«
Talomar Indris schob seine Locken unter die Lederhaube. »Du wirst mir vertrauen müssen. Wir haben beide einen Schwur abgelegt – den Schwur, die Neun Pforten zu verteidigen, was immer geschehen mag. Daran halte ich mich.«
Seine Stiefel brachen durch die Schneedecke. Gubyr folgte ihm ohne ein weiteres Wort. Eisiger Wind schlug den beiden ins Gesicht, so heftig, als wolle der Berg sie von sich stoßen.
Suuls Hauch wurde stärker, mit jedem Atemzug. Denn die Goldéi nahten.
In der Stadt Imris, Hüterin der Neun Pforten, erzählte man die Legende von Suuls Tod wie folgt:
Durta Slargin flog in Gestalt einer Möwe nach Aroc. Da erspähte er vor der Bucht von Imris ein Boot, das mit den Wellen kämpfte. Es drohte, vom Sturm gegen das Packeis getrieben zu werden. Durta Slargin stieß zu ihm herab und warnte die drei Insassen mit schrillen Pfiffen. So rettete er sie und lotste sie sicher an Land.
Auf der Insel nahm der Zauberer menschliche Gestalt an und versprach den Gestrandeten, sie vor Suul zu beschützen. Denn der Riese hatte die Ankömmlinge längst erspäht. Brüllend stapfte er auf sie zu, und seine Pranken warfen Schnee zum Himmel empor, um einen Sturm zu beschwören. Doch die Gestrandeten wussten sich zu wehren. Der erste, ein Fischer, brachte Suul mit seinem Netz zu Fall; der zweite, ein Seefahrer, schlug ihn mit seinem Ruder bewusstlos; der dritte, ein Händler, schlitzte ihm mit einem Prägemesser die Gurgel auf, worauf heißes Quellwasser aus der Wunde stürzte und das Eis ringsum zum Schmelzen brachte. Durta Slargin aber besänftigte den Sturm und bändigte die Klaue des Winters. So besiegte er Suul mit Hilfe von drei tapferen Männern, und diese Riesentöter wurden die Ahnherren von Imris: ein Fischer, ein Seefahrer und ein Händler.
In den Dörfern der Bucht hörte man diese Fassung sehr ungern. Seit jeher herrschten die Fischer, Seefahrer und Händler aus Imris über die Insel, da sie sich als Nachfahren der Riesentöter betrachteten. Die Handwerker und Reusenflechter aus den Dörfern mussten hingegen um jeden Bissen Brot kämpfen. Sie behaupteten, dass diese Fassung der Legende nur dazu diene, den Reichtum von Imris zu mehren, und dass es vielmehr ein Muschelsammler, ein Reusenfischer und ein Netzknüpfer gewesen seien, die Suul getötet hätten. Doch auch sie mussten, wie alle Bewohner Arocs, ein Drittel ihrer Einkünfte an Imris abtreten, zum Dank für Suuls Bezwingung.
Zwei Tote lagen auf dem Kreidefelsen, umspült von Quellwasser. Ihre Kehlen waren durchschnitten; sie klafften wie der Felsspalt, dem das siedende Wasser entsprang. Blut mischte sich in die Fluten. Als hellrotes Rinnsal plätscherte es über die Felsen zur nächsten Terrasse und von dort in ein
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