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Sprengstoff

Sprengstoff

Titel: Sprengstoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Jogginganzug im Schrank, ein paar alte Hausschuhe unter dem Schreibtisch im oberen Zimmer. Es war sehr, sehr schlimm, immer wieder daran erinnert zu werden.
    Nach seinem Tod hatte er nie, nie wieder um Charlie geweint, nicht einmal auf seiner Beerdigung. Aber Mary hatte geweint. Wochenlang war sie mit geröteten Augen herumgelaufen. Und schließlich war sie langsam darüber hinweggekommen.
    Charlies Tod hatte auch bei ihr Narben hinterlassen, das war nicht zu übersehen. Aber ihre Narben waren äußerlich.
    Es gab eine Mary davor und eine Mary danach. Die Mary davor hatte selten Alkohol zu sich genommen, höchstens mal bei den gesellschaftlichen Anlässen, die für seine Karriere wichtig waren. Sie ließ sich dann einen milden Screwdriver mixen und trug ihn den ganzen Abend mit sich herum. Das höchste war ein Grog vor dem Zubettgehen, wenn sie schwer erkältet war, aber das war auch alles. Die Mary danach trank einen Cocktail mit ihm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und nahm auch oft vor dem Zubettgehen noch einen Drink. Gemessen an normalen Maßstäben war es kein ernsthaftes Trinken, sie trank nie so viel, daß ihr schlecht wurde und sie sich übergeben mußte, aber sie trank doch mehr als vorher. Ein kleiner, wärmespendender Schutzmantel. Genau das, was der Arzt ihr verordnet hätte. Vorher hatte sie selten geweint. Aber nachher weinte sie über die kleinsten Kleinigkeiten, doch nur, wenn sie allein war. Über ein angebranntes Abendessen, über einen Platten am Wagen und damals bei dem Wasserrohrbruch im Keller, als die Heizungsrohre eingefroren waren und der Ölofen ausging, da war sie untröstlich gewesen. Die Mary davor war ein Folkmusik-Fan gewesen - White Folk und Blues, Van Ronk, Gary Davis, Tom Rush, Tom Paxton, Spider John Koerner. Die Mary danach hatte schlichtweg alles Interesse daran verloren. Sie sang jetzt ihren eigenen Blues, klagte ihr Leid auf einer inneren Stereoanlage. Sie hörte auf, über ihre gemeinsame Reise nach England zu reden, die sie für den Fall seiner Beförderung geplant hatten. Sie fing an, ihr Haar zu Hause zu frisieren, und der Anblick einer mit Lockenwicklern vor dem Fernseher sitzenden Mary wurde alltäglich. Sie war es, die von ihren gemeinsamen Freunden bedauert wurde - und er fand das ganz in Ordnung. Er wollte sich selbst bemitleiden und tat es auch, aber insgeheim. Sie war fähig gewesen, ihre Bedürfnisse anzumelden und sich zu nehmen, was man ihr als Trost anbot, und das hatte sie gerettet. Es hatte sie vor den fürchterlichen Gedanken bewahrt, mit denen er sich nächtelang rumplagte. Nach ihrem Schlummertrunk war sie jede Nacht sanft eingeschlafen. Und während sie schlief, hatte er über die seltsame Welt nachgedacht, in der eine kleine Anzahl von bösartigen Gehirnzellen seinen Sohn zerstören und ihn für immer von ihm wegnehmen konnte.
    Er hatte sie nie wegen ihrer Heilung gehaßt und sie nie um die Achtung beneidet, die ihr andere Frauen mit Recht entge-genbrachten. Sie betrachteten sie mit den Augen, mit denen ein junger Arbeiter auf den Ölfeldern die narbige, verbrannte Haut im Gesicht oder an den Händen eines alten Veteranen betrachten mochte - mit dem Respekt, den die Unverletzten den ehemals Verwundeten und nun Geheilten entgegen-brachten. Sie hatte ihre Zeit in der Hölle durchgemacht, und diese Frauen wußten das. Aber sie hatte es überwunden. Es hatte ein Davor gegeben, dann die Hölle und dann ein Danach. Und dann war die Zeit Danach-Danach gekommen, in der sie sich wieder zwei von ihren ehemals vier Frauenclubs angeschlossen hatte. Sie hatte wieder mit ihrem Makramee angefangen (er besaß einen Gürtel, den sie im letzten Jahr gearbeitet hatte, eine wundervoll geknüpfte Kreation mit einer schweren Silberschnalle und seinem Monogramm BGD in der Mitte) und sich nachmittags vor den Fernseher gesetzt und sich die Seifenopern und Merv Griffin im Gespräch mit seinen Berühmtheiten angesehen. 
    Und was war jetzt? fragte er sich, als er mit seinem Drink ins Wohnzimmer zurückging. Danach-Danach-Danach? Es kam ihm so vor. Eine neue Frau, eine schöne, gesunde Frau, die sich aus der Asche erhoben hatte, die er so ungestüm aufgewühlt hatte. Der alte Ölfeldarbeiter mit seinen Narben blieb zwar, aber er erlangte ein neues, gewinnendes Aussehen. War Schönheit nur so tief wie die Haut? Nein, Schönheit lag in den Augen des Betrachters, und sie konnte sehr, sehr tief sein.
    Seine Narben waren alle innerlich. In den langen Nächten nach Charlies Tod

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