Spur nach Ostfriesland
Fahrzeug mit eingeschaltetem Motor stand neben dem Bahnhofsgebäude und stieß weiße Abgaswolken aus, die den gelblichen Nebel zu überwältigen suchten, und sie verharrte, um einzuschätzen, ob sich die Scheinwerfer auf sie zu bewegten oder sie gefahrlos die Straße überqueren konnte. Das gleißende Licht erlosch, und die Dunkelheit schien ihre Sinne zu schärfen. Schritte, ja, ganz sicher jetzt. Sie stapfte quer über die Straße. Ein Kleinbus bretterte Richtung Bahnhof und schnitt die Kurve. In der Eile, ihm aus dem Weg zu kommen, übersah sie im brackigen Schmelzwasser am Straßenrand den Bordstein und stürzte.
»Scheiße!«, fluchte sie, rappelte sich mühsam auf und suchte nach einem Taschentuch. Vergeblich, die Packung musste im Rucksack sein. Sie vollführte eine halbe Drehung, um sich unter seinem Gewicht herauszuwinden, und vergaß ihre schmutzigen Hände. Jemand stand an der Ecke. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, eine Schirmmütze bedeckte das Gesicht, aber etwas in seiner Haltung erschreckte sie zutiefst. Es gab keine unverfängliche Erklärung mehr, ein normaler Mensch würde bei diesem Wetter nicht dort herumstehen, scheinbar lässig gegen einen Baum gelehnt, mit dessen Stamm seine massig wirkende Silhouette fast verschmolz. Ein normaler Mensch, der lediglich auf jemanden wartete, würde sich nicht im Schatten herumdrücken, wo ihn niemand entdecken konnte. Nein, er schien in ihre Richtung zu starren, die Hände in den Taschen vergraben, als hätte er alle Zeit der Welt.
Sie hatte keine Wahl, sie konnte nicht zurück, vorbei an ihm. Die Straße war menschenleer, das Fahrzeug oben fuhr gerade davon. Sie drehte sich um und hastete den Berg hinan. Auf dem Bahnsteig wäre sie sicher, gewiss warteten andere Reisende dort, wenn sie nur die grässliche Unterführung schon durchquert hätte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Typ ihr jetzt nachstellte, obwohl sie es abgelehnt hatte, mit ihm auszugehen. Oder weil? Nein, so etwas kam in Krimis vor, nicht im richtigen Leben. Niemand würde bei dem Scheißwetter an der Straßenecke jemandem auflauern, nicht einmal ein Psychopath. Nein, bestimmt gab es eine völlig harmlose Erklärung, wenn ihr nur eine einfallen würde. Jetzt hörte sie wieder die Schritte. Näher als zuvor. Sie begann zu rennen, kam kaum voran, weil ihre Füße keinen Halt fanden, ihr Atem ging stoßweise, und das Keuchen dröhnte ihr laut in den Ohren. Nicht mehr weit. Sie blickte hinter sich. Zu weit. Panisch stürzte sie die Stufen zur Bahnhofsgaststätte hinauf.
***
»Ich werde auf keinen Fall eine Frau heiraten können, die lispelt.«
Marilene Müller schüttelte verwundert den Kopf. Eben noch hatten sie über die anstehende Geschichtsklausur ihres Pflegesohnes Niklas gesprochen, und jetzt ging es ums Heiraten? Sie hatte sich allmählich an solch unvermittelte Themenwechsel gewöhnt, aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihnen immer folgen konnte.
»Stell dir das nur mal vor«, fuhr Niklas fort, als habe er ihre Irritation nicht bemerkt, »Niklath Jethen, das klingt doch total bescheuert.«
Es klang bescheuert, und Marilene unterdrückte mühsam ein Grinsen. »Gibt es denn einen Grund, darüber nachzudenken?«, erkundigte sie sich.
»Na ja, nicht so direkt.« Niklas schob den leeren Teller von sich, nicht ohne sich zu vergewissern, dass wirklich nichts mehr in der gerade akribisch von ihm ausgeschabten Pfanne war. »Da ist so ein Mädchen im Deutschkurs, die ist echt gut, also in Deutsch und, na ja, auch sonst, irgendwie, du weißt schon, sie ist einfach nicht so albern wie die meisten, und eigentlich sieht sie auch nicht schlecht aus.«
Kein überzeugendes Kompliment, dachte Marilene, vor allem das »eigentlich« schränkte die Aussage ein, aber sie nahm an, es handelte sich um bewusste Untertreibung, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er sei verliebt. Was er vermutlich war, denn normalerweise sprach Niklas regelrechtes Schriftdeutsch. »Aber sie lispelt, und das stellt ein größeres Problem für dich dar, als du dir eingestehen möchtest«, folgerte sie.
Niklas nickte. »Ich schätze, du hast recht.« Er drückte den Stiel der Pfanne herunter und schielte hinein, ob er nicht doch einen Rest übersehen hatte.
»Da ist Eis im Kühlschrank.« Marilene hatte inzwischen gelernt, dass Essen sich nicht auf Mahlzeiten beschränkte, schon gar nicht, wenn sie selbst kochte, und obwohl sie die Mengen so bemaß, dass ihrer Meinung nach drei Personen
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