Spur nach Ostfriesland
ausreichend satt würden, schien das nie zu genügen. Immer öfter übernahm Niklas das Kochen. Für vier.
Er sprang so hastig auf, als stünde er tatsächlich kurz vor dem Verhungern, und streckte den Kopf ins Eisfach. »Du auch?«
»Nein, mir ist kalt genug«, erklärte sie, mit vollem Magen eine leichte Übung. Später, wenn Niklas zum Arbeiten in seinem Zimmer verschwunden wäre und stündlich wieder auftauchte, um die Schränke nach etwas Essbarem zu durchforsten, würde es schwieriger, dem Angebot zu widerstehen. Und vollends unmöglich, wenn sie gemeinsam fernsahen und er ihr permanent eine Tüte mit fettigem Inhalt, eine Schale mit Keksen oder brüderlich zerteilte Schokoladenriegel unter die Nase hielt.
Sie wurde fett, und es war an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Standhaft zu bleiben, ein allabendlicher Vorsatz, den sie ebenso oft über den Haufen warf. Sie schaute ihm zu, wie er ein Schälchen mit Erdbeereis füllte, nach kurzem Zögern noch ein paar Löffel Schokolade hinzufügte und sich wieder am Küchentisch niederließ, in den Augen die strahlende Vorfreude eines Kindes, das gleich in die Hände klatschen würde vor Begeisterung.
In solchen Momenten war die Ähnlichkeit mit seinem kleinen Bruder Arne unverkennbar, und Marilene staunte wieder einmal, wie leicht diese Kinder zufriedenzustellen waren. Selbst Marie, die Mittlere der Geschwister, schien, seit sie die Schule aufgegeben und eine Lehre als Buchhändlerin begonnen hatte, allmählich zu sich selbst zu finden und war längst nicht mehr so mürrisch und verschlossen wie am Anfang, als sich ihrer aller Leben so grundlegend verändert hatte.
Sicher hatte die psychologische Betreuung geholfen, und trotzdem, glaubte Marilene, wären andere, weniger gefestigte Persönlichkeiten, an dem, was sie erlebt hatten, zerbrochen. Doch diese Kinder schienen es zu schaffen und hatten sich tapfer und mit einer stoischen Entschlossenheit, die sich nicht erlernen ließ, in ihr neues Leben eingefügt.
Marie und Arne lebten jetzt bei ihrer Großmutter Anita, und Niklas hier bei ihr, bis er das Abi in der Tasche hätte. Anfangs hatte sie oft vor lauter Angst vor der Verantwortung nicht schlafen können. Manchmal, wenn sie tief in Gedanken aus ihrer Kanzlei heimkam, erschrak sie noch, wenn sie jemanden in ihrer Wohnung rumoren hörte, und dann wieder kam es ihr vor, als wäre es nie anders gewesen, als habe sie diesen großen, ungewöhnlich höflichen Jungen schon immer bei sich gehabt und nur sein Heranwachsen verschlafen. Dies, vermutete sie, ging den meisten Eltern so, dass sie eines Tages aufwachten und feststellten, dass ein Erwachsener mit ihnen am Tisch saß, dabei war er doch gerade erst heulend mit verschrammten Knien heimgekommen, hatte vor Aufregung die Schultüte zerdrückt, stolz die erste Zahnlücke vorgewiesen und die Tücken der Pubertät einigermaßen heil durchlaufen. Verschwommene Bilder, wie mit einem Zeitraffer betrachtet, der gelegentlich stockt und den Blick fokussieren lässt, für einen winzigen, unwiederbringlichen Moment nur, bevor er rasend schnell weiterspult.
»Ich dachte, man könnte das abtrainieren«, wandte sie sich dem anstehenden Problem zu, nun ihrerseits Niklas verwirrend, dessen Gedanken offensichtlich längst anderswo weilten. »Das Lispeln«, fügte sie hinzu.
»Ach so.« Er ließ sich Zeit und löffelte sein Schälchen leer, bevor er sich zurücklehnte. »Schon«, sagte er, »ich habe im Internet einiges darüber gefunden, aber das kann ich ihr ja wohl kaum sagen, oder? Jedenfalls nicht, ohne sie zu verletzen.«
»Wohl nicht«, stimmte Marilene ihm zu, »dann wirst du eben doch den ersten vor dem zweiten Schritt machen müssen.«
Niklas runzelte verständnislos die Stirn.
»Weißt du«, erklärte Marilene, »du musst sie nicht sofort heiraten, das ist heutzutage gar nicht mehr so üblich.« Sie konnte ein Grinsen nicht länger unterdrücken. »Lern sie doch erst einmal besser kennen, vielleicht lispelt sie ja nur unter Stress, oder es ergibt sich irgendwann eine unverfängliche Gelegenheit, das Thema anzuschneiden.« Sie glaubte nicht an unverfängliche Gelegenheiten im zwischenmenschlichen Bereich, aber bis eigene schlechte Erfahrungen sich zur unumstößlichen Erkenntnis summierten, bliebe ihm noch viel Zeit, hoffte sie.
»Ich weiß, ich denke meistens zu früh zu weit.« Niklas wirkte zerknirscht. »Mama hat auch immer gesagt, ich soll locker lassen. Was passieren soll, passiert, egal, wie sehr ich mir
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