Stadt aus Glas
William Wilson derselbe Mann seien. Aus diesem Grunde trat er auch nicht hinter der Maske seines Pseudonyms hervor. Er hatte einen Agenten, aber sie waren einander nie begegnet. Ihre Kontakte beschränkten sich auf die Post, und Quinn hatte zu diesem Zweck ein Postfach gemietet. Dasselbe galt für den Verleger, der alle Honorare und Tantiemen durch den Agenten zahlte. In keinem Buch von William Wilson fand man je eine Fotografie des Autors oder einen biographischen Hinweis. William Wilson stand in keinem Autorenhandbuch, er gab keine Interviews, und alle Briefe an ihn wurden von der Sekretärin seines Agenten beantwortet. Soviel Quinn wußte, kannte niemand sein Geheimnis. Anfangs, als seine Freunde erfuhren, daß er das Schreiben aufgegeben hatte, fragten sie ihn oft, wie er zu leben gedachte. Er sagte allen dasselbe: daß er Treuhandgelder von seiner Frau geerbt habe. Aber Tatsache war, daß seine Frau nie Geld gehabt hatte. Und Tatsache war auch, daß er keine Freunde mehr hatte. Das war nun vor mehr als fünf Jahren gewesen. Er dachte nicht mehr sehr viel an seinen Sohn, und erst unlängst hatte er das Foto seiner Frau von der Wand genommen. Hin und wieder fühlte er plötzlich, wie es gewesen war, den drei Jahre alten Jungen in den Armen zu halten - aber das war, genaugenommen, kein Denken, es war nicht einmal ein Erinnern. Es war eine körperliche Empfindung, ein Abdruck der Vergangenheit, der in seinem Körper zurückgeblieben war, und darauf hatte er keinen Einfluß. Solche Augenblicke kamen jetzt weniger oft, und meist schien es so, als hätte sich alles für ihn zu verändern begonnen. Er wünschte nicht mehr, tot zu sein. Andererseits kann man nicht sagen, daß er froh war zu leben. Aber zumindest war es ihm nicht mehr lästig. Er lebte, und die Hartnäckigkeit dieser Tatsache hatte ihn nach und nach zu faszinieren begonnen - so als wäre es ihm gelungen, sich selbst zu überleben, als führte er irgendwie ein posthumes Leben. Er schlief nicht mehr bei brennender Lampe, und seit vielen Monaten hatte er sich nun an keinen seiner Träume mehr erinnert.
Es war Nacht. Quinn lag im Bett, rauchte eine Zigarette und horchte auf den Regen, der gegen das Fenster schlug. Er fragte sich, wann er aufhören und ob ihm am Morgen nach einem langen oder nach einem kurzen Gang zumute sein werde. Ein aufgeschlagenes Exemplar von Marco Polos Reisen lag mit dem Rücken nach oben neben ihm auf dem Kopfkissen. Seitdem er vor zwei Wochen den letzten Roman William Wilsons beendet hatte, war er faul gewesen. Sein Erzähler, der Privatdetektiv Max Work, hatte eine komplizierte Reihe von Verbrechen aufgeklärt, er war einige Male zusammengeschlagen worden und nur mit knapper Not davongekommen, und Quinn fühlte sich von seinen Anstrengungen ein wenig erschöpft. Im Laufe der Jahre war ihm Work sehr nahegekommen. Während William Wilson für ihn eine abstrakte Figur blieb, war Work mehr und mehr lebendig geworden. In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh. Wenn Wilson eine Illusion war, so rechtfertigte er doch das Leben der beiden anderen. Wenn Wilson nicht existierte, so war er doch die Brücke, die es Quinn erlaubte, aus sich selbst in Work hinüberzugehen. Und allmählich war Work eine Persönlichkeit in Quinns Leben geworden, sein innerer Bruder, sein Gefährte in der Einsamkeit. Quinn nahm den Marco Polo auf und begann noch einmal, die erste Seite zu lesen. »Wir werden Gesehenes, wie es gesehen, Gehörtes, wie es gehört wurde, niederschreiben, so daß unser Buch ein genauer Bericht sei, frei von jeglicher Art von Erdichtung. Und alle, welche dieses Buch lesen oder anhören, mögen dies mit vollem Vertrauen tun, denn es enthält nichts als die Wahrheit.« Als Quinn eben begann, über den Sinn dieser Sätze nachzudenken und sich ihre selbstbewußten Behauptungen durch den Kopf gehen zu lassen, läutete das Telefon. Viel später, als er in der Lage war, die Ereignisse dieser Nacht zu rekonstruieren, erinnerte er sich, daß er auf die Uhr sah, feststellte, daß es nach Mitternacht war, und sich fragte, wer ihn um diese Zeit anrufen mochte. Sehr wahrscheinlich schlechte Nachrichten, dachte er. Er stieg aus dem Bett, ging nackt zum Telefon und nahm den Hörer nach dem zweiten Läuten ab.
»Ja?«
Eine lange Pause am anderen Ende, und einen Augenblick dachte Quinn, der Anrufer
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