Stadt aus Glas
abgeschlossen war oder ob er nicht irgendwie noch daran arbeitete. Er fragte sich, wie die Karte aller Schritte, die er in seinem Leben getan hatte, aussehen mochte und was für ein Wort man auf ihr lesen könnte.
Wenn es dunkel war, schlief Quinn, und wenn es hell war, aß er und schrieb in dem roten Notizbuch. Er konnte nie mit Sicherheit sagen, wieviel Zeit jeweils dazwischen vergangen war, denn er beschäftigte sich nicht damit, die Tage oder Stunden zu zählen. Es schien ihm jedoch, daß allmählich die Dunkelheit über das Licht die Oberhand gewann, daß, während anfangs der Sonnenschein vorgeherrscht hatte, nun das Licht immer schwächer und vergänglicher geworden war. Zuerst schrieb er das dem Wechsel der Jahreszeit zu. Die Tagundnachtgleiche war sicherlich schon vorüber, und es ging vielleicht auf die Wintersonnenwende zu. Aber auch nachdem der Winter gekommen war und sich der Prozeß theoretisch hätte umkehren müssen, beobachtete Quinn, daß die Perioden der Dunkelheit immer länger wurden als die Perioden des Lichts. Es schien ihm, daß er immer weniger Zeit hatte, seine Mahlzeit einzunehmen und in seinem roten Notizbuch zu schreiben. Zuletzt hatte er den Eindruck, daß diese Perioden auf Minuten reduziert worden waren. Einmal zum Beispiel hatte er gegessen und stellte fest, daß er gerade noch genug Zeit hatte, um drei Sätze in sein rotes Notizbuch zu schreiben. Als es das nächste Mal hell war, konnte er nur noch zwei Sätze schreiben. Er begann, seine Mahlzeiten zu überspringen und sich ganz dem roten Notizbuch zu widmen, und er aß nur noch, wenn er das Gefühl hatte, daß er den Hunger nicht mehr ertragen konnte. Aber die Zeit wurde immer kürzer, und bald konnte er nur noch ein oder zwei Bissen essen, bevor die Dunkelheit zurückkehrte.
Er dachte nicht daran, das elektrische Licht einzuschalten, denn er hatte längst vergessen, daß es da war.
Diese Periode der zunehmenden Dunkelheit fiel mit dem Knappwerden der Seiten im roten Notizbuch zusammen. Allmählich näherte sich Quinn dem Ende. In einem gewissen Augenblick wurde ihm klar: Je mehr er schrieb, desto früher mußte die Zeit kommen, in der er gar nicht mehr schreiben konnte. Er begann seine Worte mit großer Sorgfalt abzuwägen und rang darum, sich so sparsam und klar wie möglich auszudrücken. Er bedauerte, im ersten Teil des roten Notizbuchs so viele Seiten vergeudet zu haben, und es tat ihm leid, daß er überhaupt über den Fall Stillman geschrieben hatte. Denn der Fall lag nun weit hinter ihm, und er dachte nicht mehr an ihn. Er war eine Brücke zu einem anderen Ort in seinem Leben gewesen, und nun, da er sie überschritten hatte, war ihre Bedeutung verlorengegangen. Quinn hatte kein Interesse mehr an sich selbst. Er schrieb über die Sterne, die Erde, seine Hoffnungen für die Menschheit. Er fühlte, daß seine Worte von ihm losgetrennt waren, daß sie nun ein Teil der weiten Welt geworden waren, so wirklich und spezifisch wie ein Stein oder ein See oder eine Blume. Mit ihm hatten sie nichts mehr zu tun. Er erinnerte sich an seine Geburt und wie er sanft aus dem Schoß seiner Mutter gezogen worden war. Er erinnerte sich an die endlose Güte der Welt und aller Menschen, die er je geliebt hatte. Nichts anderes zählte mehr als die Schönheit von alledem. Er hätte gern weiter darüber geschrieben, und es schmerzte ihn zu wissen, daß es nicht möglich sein werde. Er fragte sich, ob er es in sich hatte, ohne Kugelschreiber zu schreiben, ob er statt dessen lernen konnte zu sprechen, die Dunkelheit mit seiner Stimme zu füllen, die Worte in die Luft zu sprechen, in die Wände, in die Stadt hinaus, auch wenn das Licht nicht mehr zurückkehrte.
Der letzte Satz im roten Notizbuch lautet: »Was wird geschehen, wenn in dem roten Notizbuch keine Seiten mehr sind?«
Von hier an wird die Geschichte undurchsichtig. Die Information ist zu Ende, und die Ereignisse, die auf diesen letzten Satz folgten, wird man nie kennen. Es wäre töricht, auch nur raten zu wollen. Ich kehrte im Februar von meiner Afrikareise zurück, wenige Stunden bevor ein Schneesturm New York heimsuchte. Ich rief an diesem Abend meinen Freund Auster an, und er bat mich eindringlich, ihn aufzusuchen, so rasch ich konnte. Es war etwas so Drängendes in seiner Stimme, daß ich es nicht wagte, mich zu weigern, obwohl ich erschöpft war. In seiner Wohnung erklärte mir Auster das Wenige, was er über Quinn wußte, und dann beschrieb er den seltsamen Fall, in den er durch
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