Stadt aus Glas
allein auf einer Bank, starrte auf nichts im besonderen und hatte das kleine rote Notizbuch auf dem Schoß liegen. Überall war Licht, ein ungeheures Licht, das von allem auszustrahlen schien, was das Auge erblickte, und oben in den Zweigen der Bäume wehte eine Brise und schüttelte die Blätter mit einem leidenschaftlichen Rauschen, einem Steigen und Fallen, das stetig wie eine Brandung atmete. Quinn hatte seine Schritte sorgfältig geplant. Er tat, als bemerkte er Stillman nicht, setzte sich neben ihn auf die Bank, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in dieselbe Richtung wie der alte Mann. Keiner von beiden sprach. Nach seinen späteren Berechnungen schätzte Quinn, daß das etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten dauerte. Dann wandte er unversehens den Kopf dem alten Mann zu und sah ihn offen an, heftete seine Augen hartnäckig auf das runzelige Profil. Quinn konzentrierte seine ganze Kraft in seinen Augen, so als könnten sie ein Loch in Stillmans Schädel brennen. Dieses Starren dauerte fünf Minuten. Endlich wandte sich Stillman ihm zu. Mit einer überraschend sanften Tenorstimme sagte er: »Es tut mir leid, aber es wird mir nicht möglich sein, mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich habe nichts gesagt«, antwortete Quinn.
»Das stimmt«, sagte Stillman. »Aber Sie müssen verstehen, daß es nicht meine Gewohnheit ist, mit Fremden zu sprechen.«
»Ich wiederhole«, sagte Quinn, »daß ich nichts gesagt habe.«
»Ja, ich habe Sie schon beim erstenmal verstanden. Aber interessiert es Sie nicht zu erfahren, warum?«
»Ich fürchte, nein.«
»Gut gesagt. Ich sehe, Sie sind ein Mann von Verstand.«
Quinn zuckte die Schultern und weigerte sich zu antworten. Seine ganze Haltung strahlte Gleichgültigkeit aus.
Stillman lächelte fröhlich darüber, lehnte sich zu Quinn hinüber und sagte mit Verschwörermiene: »Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.«
»Das wird sich zeigen«, sagte Quinn nach einer langen Pause.
Stillman lachte - ein kurzes, dröhnendes »ha« -, dann sprach er weiter: »Es ist nicht so, daß ich etwas gegen Fremde an sich hätte. Ich ziehe es eben nur vor, nicht mit jemandem zu sprechen, der sich mir nicht vorstellt. Um anfangen zu können, muß ich einen Namen haben.«
»Aber sobald Ihnen jemand seinen Namen gesagt hat, ist er doch kein Fremder mehr.«
»Richtig. Deshalb spreche ich nie mit Fremden.«
Quinn war auf so etwas vorbereitet und wußte, wie er zu antworten hatte. Er hatte nicht die Absicht, in die Falle zu gehen. Da er, technisch gesehen, Paul Auster war, hatte er diesen Namen zu schützen. Alles andere, auch die Wahrheit, war eine Maske, hinter der er sich verbergen und sicher fühlen konnte.
»In diesem Falle«, sagte er, »kann ich Ihnen gern dienen. Mein Name ist Quinn.«
»Ah«, sagte Stillman nachdenklich und nickte.
»Quinn.«
»Ja, Quinn. Q-U-I-N-N.«
»Ich verstehe. Ja, ja, ich verstehe. Quinn. Hm. Ja. Sehr interessant. Quinn. Ein sehr klangvolles Wort. Reimt sich auf Sinn, nicht wahr?«
»Das ist richtig. Sinn.«
»Auch auf Gewinn, wenn ich mich nicht irre?«
»Sie irren sich nicht.«
»Und auch auf in - mit einem >n< - oder Kinn mit zweien. Richtig?«
»Richtig.«
»Hm. Sehr interessant. Ich sehe viele Möglichkeiten für dieses Wort, dieses Quinn, diese ... Quintessenz der Quiddität. Quick, zum Beispiel. Und Quiz. Und Quack. Hm. Reimt sich auf bin, ganz zu schweigen von hin. Hm. Sehr interessant. Und drin. Und Spin. Und Zinn. Und Gin. Hm. Es reimt sich sogar auf Dschinn. Ja, sehr interessant. Ihr Name gefällt mir ausgezeichnet, Mr. Quinn. Er fliegt in so viele kleine Richtungen auf einmal davon.«
»Ja, das habe ich selbst schon oft bemerkt.«
»Die meisten Menschen achten auf so etwas nicht. Sie halten Wörter für Steine, große unbewegliche Gegenstände ohne Leben, Monaden, die sich nie verändern.«
»Steine können sich verändern. Sie können durch Wind und Wasser abgeschliffen werden. Dann die Erosion. Und sie können zertrümmert werden. Man kann sie in Splitter, Schotter oder Sand verwandeln.«
»Genau. Ich habe gleich gewußt, daß Sie ein Mann von Verstand sind, Mr. Quinn. Wenn Sie nur wüßten, wie viele Menschen mich mißverstanden haben. Meine Arbeit hat darunter gelitten. Schrecklich gelitten.«
»Ihre Arbeit?«
»Ja, meine Arbeit. Meine Projekte, meine Untersuchungen, meine Experimente.«
»Ach!«
»Ja. Aber allen Rückschlägen zum Trotz habe ich nie wirklich den Mut verloren. Zur Zeit, beispielsweise, bin
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