Stadt der blauen Paläste
studierte sie offenbar die halbe Nacht hindurch, da ihre Kerze stets niedergebrannt war, wenn Crestina morgens in ihr Zimmer kam.
Es war Crestina klar, dass sie mit Lea reden musste, aber Lea lag inzwischen meist auf ihrer Schlafbank, entweder in einem apathischen Zustand, weil sie glaubte, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorstand, oder sie diskutierte mit Bianca über koschere Rezepte für den Sabbat. Für später dann, fügte sie meist besänftigend hinzu, nicht für jetzt, wenn Bianca drängte, dass es nun Zeit für ihren Übertritt sei. Jetzt war Buße angesagt, wobei Bianca wenig Ahnung hatte, wofür sie büßen sollte. Sie hatte den Eindruck, bis jetzt eigentlich nicht gesündigt zu haben. Aber da alle anderen im Ghetto Buße taten, hatte sie das Gefühl, dass sie sich nicht ausschließen durfte, wenn sie dazugehören wollte. Und irgendetwas würde ihr ganz gewiss einfallen.
Als Crestina sich endlich entschloss, mit Moise zu reden, hatte sie das Gefühl, dass das noch falscher war, als mit Lea zu reden.
»Ich habe nichts getan, wofür ich mich rechtfertigen müsste«, sagte Moise ruhig.
»Aber sie tut es doch für Euch«, beschwor ihn Crestina, »sie will Euch damit zu Gefallen sein.«
»Und wie stellt Ihr Euch vor, könnte ich Eure Tochter davon abbringen? Inzwischen wohne ich schon die meiste Zeit über bei einem Freund in der Stadt, weil ich nicht im Ghetto wohnen kann und ständig Fragen beantworten will, wann endlich die zwölf Stämme Israels hier eintreffen. Ich bin nur noch frühmorgens im Palazzo, weil ich weiß, dass Bianca dann noch schläft.«
»Aber Ihr müsst ihr doch irgendwann zu verstehen gegeben haben, dass Ihr sie mögt«, sagte Crestina gequält.
»Ich habe ihr nur zu verstehen gegeben, dass sie noch ein Kind ist und ich ein Mann, dass ich Erfahrungen habe, sie nicht.«
»Sie wird nicht wissen, was Ihr mit diesen ›Erfahrungen‹ meint«, wagte Crestina einzuwenden.
»Oh ja, das weiß sie sehr wohl«, stieß Moise hervor. »Auch ihre Brüder haben diese ›Erfahrungen‹ und daher weiß sie, worum es dabei geht. Das Schlimme dabei ist, dass sie diese Erfahrungen auch machen möchte.«
»Mit Euch?«
»Ja, natürlich mit mir.«
Crestina seufzte.
»Was soll ich tun? Wisst Ihr einen Rat?«
»Gebt sie weg aus der Stadt. Irgendwohin. Weit weg von hier. Vor allem weit weg vom Ghetto. In diesem Augenblick, in dem man meint, dass die Welt untergeht, wenn dieser Messias diesmal nicht das bringt, was man von ihm erwartet.«
9. B ARTOLOMEO
Dass Crestina sich an diesem Morgen mühsam über die Holzstege des völlig überfluteten Markusplatz gequält hatte, hatte zum einen mit der acqua alta zu tun, die sie am Einkaufen gehindert hatte, und zum anderen mit Leas Gespräch im Ghetto am Abend zuvor. Ein Gespräch, das ausnahmsweise nicht mit Bianca oder dem Messias zu tun hatte, sondern mit Clemens. Sie habe gehört, dass Clemens mit nicht einwandfreien Geschäften zu tun habe, hatte Lea ihre Freundin gewarnt.
Von wem sie dies wisse, hatte Crestina wissen wollen.
Lea hatte die Augen gerollt.
»Fragst du das wirklich in dieser Stadt? Wo einer dem anderen erzählt, was ihm ein anderer gerade vor fünf Minuten erzählt hat? Oder welchen Zettel er gerade in irgendeiner Mauerritze entdeckt hat?«
Jetzt, als sie den Kai verließ und den schmalen Steg zur ›Chrestina‹, wie Renzo das Schiff ihr zu Ehren einst benannt hatte – ›Chrestina‹ mit h, weil ihm das besser gefiel –, hinüberging, konnte sie Clemens auf der Brücke sehen, der sich mit einem Mann unterhielt, von dem er ihr gestern erzählt hatte. Ein Mann, mit dem er offenbar ein lukratives Geschäft plante. Ob es einwandfrei war, hoffte sie zu erfahren. Ludovico hatte gebeten, bei dem Gespräch dabei sein zu dürfen, auch wenn ihn dieses Geschäft keinesfalls interessierte. Aber er hatte sich am Tag zuvor vor den Globus gestellt, um den Ort zu finden, an den dieser Mann in nächster Zeit hinreisen wollte: Mexiko.
Der Mann, mit dem das Geschäft ganz offensichtlich stattfinden sollte, stand auf der Brücke und diskutierte heftig mit Clemens, als Crestina näher kam. Sie sah ihn von hinten, einen korpulenten, mittelgroßen Mann in einer vornehmen Kleidung, die ganz eindeutig nicht aus Venedig stammte, eher aus einem der Länder, mit denen die Stadt Handel trieb.
Sie blieb einen Augenblick hinter der Gruppe stehen, zu der sich inzwischen noch ein Offizier gesellt hatte, da sie das Gespräch
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