Stadt der blauen Paläste
lediglich verschlüsselt und unterdrückt, so, als seien sie eben keine Familie. Es schien, als seien sie alle, seit sie wieder in dieser Stadt lebten, zu Feinden geworden. Als sei eine Axt vom Himmel gefallen, habe sich zwischen sie geworfen und keinerlei Bande mehr heil gelassen. Als seien alle Wunden, über die seit Jahrzehnten nicht gesprochen werden durfte, nun plötzlich mit einem Mal wieder aufgebrochen.
»Und außerdem schreibt sie Briefe, Briefe an einen Toten. Und neulich fand ich ein angefangenes Sonett«, flüsterte Ludovico.
»Briefe an unseren toten Vater?«, fragte Bianca verstört.
»Nein, natürlich nicht an unseren Vater. An ihren Bruder Riccardo, der schon seit Jahrhunderten tot ist«, erwiderte Ludovico zornig.
Hätte jemand gewagt, diesen Satz, dass Riccardo bereits seit Jahrhunderten tot sei, zu Crestina zu sagen, so hätte sie ihn ganz gewiss mit einem versteinerten Blick fixiert und wäre dann zur Tagesordnung übergegangen. Dann hätte sie vermutlich beim nächsten Besuch Lea gefragt, wie lange ihr an der Pest verstorbener Mann Abram tot sei und gehört, dass er in Wirklichkeit gar nicht tot sei. Ganz gleich, was irgendwelche Leute darüber reden würden. Tot ist man, wenn niemand mehr an einen denkt, hätte die Freundin dann vermutlich mit aller Selbstverständlichkeit erklärt. Und damit wäre das Gespräch beendet gewesen.
Dass es irgendwo in diesem Haus Briefe an diesen Riccardo geben sollte, ließ Bianca keine Ruhe. Sie überlegte sich, wo sie nach diesen Briefen suchen sollte, aber außer einer verschlossenen Schatulle in einer Truhe im Zimmer ihrer Mutter, wäre ihr kein Platz eingefallen, an dem sie diese Briefe vermuten konnte.
Ludovico schüttelte den Kopf, als sie ihn danach fragte, und gestand, dass es keine ganzen Briefe gewesen seien, lediglich Bruchstücke, die er gefunden hatte.
»Und wo?«, wollte Bianca wissen.
»An tausend Orten«, erklärte der Bruder widerwillig und in einem Tonfall, dass Bianca bereits an dem Wahrheitsgehalt der Aussage zu zweifeln begann.
»Zerknäult in einem Kohlenbecken«, sagte er schließlich vage, »in irgendeinem der Kamine, in einem Papierkorb, einer war hinter die Kissen eines Sessels gerutscht.«
»Und wo können wir dann jetzt noch suchen?«, beharrte Bianca, trotz aller Zweifel.
Ludovico nahm sie am Arm und schob sie die Treppe hinauf in einen kleinen Raum, der kaum einen Ausblick auf den schmalen Seitenkanal hatte. Vor dem Fenster war ein Klapptisch angebracht, in der Ecke stand ein Kohlebecken mit einem kleinen Häuflein Asche. Ludovico beugte sich hinter dem Becken in die Ecke und zog einen Sack mit zerknäulten Papieren hervor, die er auf den Tisch kippte. Bianca griff eines der Papiere heraus, das irgendeine Abrechnung von einem der Schiffe gewesen sein konnte. Beim folgenden Zettel handelte es sich um Seidenstoffe, die Crestina in einem Geschäft billiger bekommen hatte, was sie mit einem roten Stift markiert hatte, dann schob ihr Ludovico triumphierend drei halb zerrissene Papiere entgegen, die er zusammenzusetzen versuchte.
»Lies!«
»Riccardo, manchmal glaube ich, dass ich eigentlich jeden Tag diesen weiten Weg machen müsste, um dich zu besuchen. Dort in deiner Grube auf dieser Pestinsel. Wo du aber gewiss schon längst nicht mehr bist, deine Seele nicht mehr ist. Dann wiederum denke ich, dass ich nur ein paar Treppen emporgehen müsste, um dich dort zu finden, in diesem Raum, der einst unsere Heimat war, in dem wir lebten. Ich kann diesen Raum riechen, kann ihn zu jeder Sekunde für mich greifbar machen, ich muss nur deine Pfeife berühren und schon bist du mir nah. Oder dieses Bild, das Leonardo einst von dir gemalt hat. Erinnerst du dich, wie wir darüber lachten, dass er dir schwarze Haare malte, weil ich mir immer wünschte, dass du schwarze Haare hättest und wir uns dadurch noch ähnlicher würden? Und, Riccardo, als du –«, der Rest des Briefes fehlte, aber Bianca fand einen anderen Teil, der zwar nicht zu diesem passte, der ihr aber ebenfalls wichtig erschien.
»Nürnberg! Du hättest mir diese Stadt ersparen können, da du ohnehin wusstest, dass ich diesen Lukas Helmbrecht nie heiraten würde. Du hättest mir ersparen können, in diesen tiefen Keller mit seinen Essigdüften hinunterzusteigen, seine widerlichen Küsse ertragen zu müssen, die ich noch stundenlang auf meinem Mund spürte, obwohl ich mir mit Seife fast die Lippen wund gerieben hatte. Riccardo, du hättest –«, auch hier fehlte die
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