Stadt der blauen Paläste
darüber, ob man ihn so ohne weiteres der Lüge bezichtigen durfte, versuchte Lea, ihr Überraschungsgesicht aufzusetzen.
»Ich hab was für dich«, sagte sie geheimnisvoll, ohne für den Augenblick zu wissen, was sie in dieser Geschwindigkeit zu einer Überraschung deklarieren konnte. Sie wusste nur, dass es normalerweise ein altbewährtes Mittel war, um Moise abzulenken. Aber diesmal gelang es ihr nicht. Moise schüttelte den Kopf und stieg schweigend in seine Schlafkammer hinauf, obwohl es noch keinesfalls an der Zeit war, sich zur Ruhe zu begeben, und es nahezu jeden Abend einen Kampf darum gab, ob es dafür die richtige Zeit war.
In der Nacht fühlte Lea auf einmal, wie ihr Laken emporgezogen wurde, sie spürte den dürren Körper Moises an sich gepresst, seine von Tränen nassen Hände auf ihrem Gesicht.
»Sie haben gesagt, wenn ich nicht tue, was sie mir befehlen, holen mich die pizzigamorti und werfen mich in eine riesige, tiefe Grube. In San Nicolo. Zu meinem Großvater, der dort bereits liegt. Einer von vielen, einer auf dem anderen. Und dann streuen sie Kalk über mich hinweg, sodass ich aussehe, als hätte mich der Bäcker eingestäubt wie einen Laib Brot. Und diejenigen, die dort schon liegen, haben nicht einmal einen Segensspruch mit auf den Grabstein bekommen, es steht dort nur ›Hebrei‹ und diese Jahreszahl: ›1631‹. Nicht ›Seine Seele sei gebunden in den Bund des Lebens‹. Und in der Jeschiwa haben alle gesagt, dass das nicht recht ist.«
Lea drückte Moise an sich, versuchte dabei den Bauch einzuziehen, obwohl sie sich dabei lächerlich vorkam.
»Niemand wird dich von den pizzigamorti abholen lassen«, sagte sie dann und küsste Moises Tränen hinweg. »Niemand. Ich werde dich immer festhalten, ganz fest.«
»Du wirst mich auch nicht in diese große Grube werfen lassen, wo Abram liegt?«, fragte Moise schluchzend.
»Nein«, sagte Lea mit fester Stimme, »ganz gewiss nicht.«
»Und du wirst mich auch nicht bestäuben lassen, mit diesem Kalk, wie einen Laib Brot?«
Lea lachte.
»Morgen werden wir Mamaliga machen, deine Leibspeise. Wir werden sie mit Honig, Zimt und Sahne übergießen und dann wirst du alles vergessen, was dich heute Nacht bedrückt. Und ganz gewiss wirst du keine Angst mehr vor irgendwelchen pizzigamorti haben, die es jetzt gar nicht gibt. Und wenn du mir endlich erzählst, was dieser Junge dir befiehlt zu tun, dann kann ich dir vielleicht helfen.«
Moise rückte von Lea ab und behauptete, müde zu sein.
»Sag es mir«, flehte Lea, »bitte, sag es mir.«
»Sie verlangen, dass ich irgendwelche Zettel zwischen die Steine stecke. Hier im Ghetto«, flüsterte Moise.
»Was für Zettel?«, fragte Lea angstvoll.
»Da stehen Sachen drauf, was die Leute gemacht haben«, sagte Moise zögernd. »Dinge, die sie aber nicht machen dürfen. Und dann kommen diese Männer vom Dogenpalast und holen die Zettel ab. Hat er gesagt. Erst holen sie die Zettel und dann die Leute. Hat er gesagt.«
Lea wäre am liebsten mitten in der Nacht aufgestanden und zu der Großmutter dieses Jungen gegangen, der Moise ständig in Angst und Schrecken versetzte.
»Du darfst das nie tun«, sagte sie dann eindringlich, »hörst du, es ist unrecht, diese Sache mit den Zetteln zwischen den Steinen. Versprich es mir.«
Moise kuschelte sich an Lea und legte sich ihre Hand auf's Gesicht.
»Ich werd's nicht tun«, sagte er dann schläfrig, »weil du meine Mama bist.«
8. D ER F ONDACO DER D EUTSCHEN
Crestina hatte den fondaco tedesco , das ›Deutsche Haus‹, in dem die deutschen Kaufleute wohnten, soeben erreicht, als ihr klar wurde, dass sie die Nummer von Margaretes Kammern vergessen hatte. Da von einem portinaio , der angeblich am Eingang stehen sollte, nichts zu sehen war, und es außerdem soeben angefangen hatte zu regnen, durchquerte Crestina rasch den Innenhof des Gebäudes, in dem sich lärmende Ballenbinder und Händler drängten. Sie stieg über eine breite Treppe in den ersten Stock hinauf und ging dann von Tür zu Tür. Sie glaubte sich zu erinnern, dass in der Kammernummer eine Acht vorkam. Außerdem war sie ganz sicher, diese Kammern, die Margaretes Eltern gehörten, auch schon aus der Ferne wahrzunehmen.
»Uns riechst du schon von weitem«, hatte Margarete lachend erklärt. »Sämtliche Düfte des Orients laufen bei uns zusammen.«
Als sie feststellte, dass sie weder den Geruch des Orients finden konnte, noch eine Tür mit einer Acht darauf, stieg sie ein weiteres Stockwerk hinauf.
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