1004 - Das Phantom in der Fremde
Damit hatte ich nicht rechnen können, denn alles in dieser unterirdischen Steinkirche hatte so normal gewirkt. Auch die hohe Säule mit dem Sims am oberen Ende, der noch vor kurzem von einem Tuch verhüllt gewesen war, das ich mit Hilfe des Schwertes abgenommen hatte. Darunter war das Gesicht des Königs Lalibela zum Vorschein gekommen, aber auch drei weitere Figuren, wahrscheinlich die Erbauer dieser und anderer Kirchen hier unten. Es waren Templer.
Sie waren dabei, etwas wegzuschaffen.
Auf einem Karren stand ein viereckiger Gegenstand. Für mich konnte es sich dabei nur um die geheimnisvolle Bundeslade handeln, die einst hier ihr Versteck gefunden hatte.
Sie war nicht mehr hier, doch ich suchte sie noch immer. Der Weg hatte mich in die Vergangenheit geführt, in der ich König Salomo begegnet war. Jetzt befand ich mich wieder in der Gegenwart, aber im fernen Äthiopien. Zudem in einer tiefen, labyrinthartigen Schlucht, in der die Templer vor Jahrhunderten die Steinkirchen errichtet hatten, wobei die unterschiedlich großen Kirchen ineinander übergingen und wie eine mächtige Kathedrale wirkten.
Alles war aus Stein!
So hatte ich es erlebt und hätte auch darauf gewettet. Das aber stimmte nicht mehr, denn Steine können normalerweise nicht bluten. Hier aber war das der Fall.
Ich selbst stand in luftiger Höhe. Um nahe genug an den oberen Rand der Säule heranzukommen, hatte ich über eine Treppe zu einer Empore oder Kanzel hochsteigen müssen, wo ich noch immer stand, beobachtet von einem alten Mann, der hier der Wächter oder Hüter der zahlreichen Kirchen war.
Er hielt sich noch auf dem normalen Kirchenboden auf und schaute schräg in die Höhe.
Bisher hatte er nichts gesagt. Ich wußte auch nicht, ob er den Vorgang des blutenden Gesichts mitbekommen hatte, denn das Licht meiner auf dem Rand der Kanzel abgelegten Lampe strahlte den Sims nicht direkt an, sondern streifte ihn nur.
Der Alte merkte, daß ich zu ihm niederschaute. Die hochgerissenen Hände hatte er zu Fäusten geballt. »Du hast den König entehrt!« rief er mir zu.
Okay, ich hatte etwas getan. Ob das allerdings einer Entehrung gleichkam, wollte ich dahingestellt sein lassen. »Wie kann man etwas entehren, das keine Ehre verdient hat?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Komm hoch zu mir, dann werde ich es dir zeigen. Ich sehe es nur als dein Recht an, daß du dir anschaust, was so lange von einem Tuch verborgen geblieben ist. Du hast diese Kirche hier unten schließlich bewacht, mein Freund.« Der alte Mann zögerte noch.
Verständlich, denn für ihn mußte eine Welt zusammengebrochen sein. Er hatte bisher seine Aufgabe nach dem besten Wissen und Gewissen erfüllt und alles Fremde aus diesem dämmrigen Bereich ferngehalten. Er hatte es nicht mal gewagt, hinter das Tuch zu schauen und es betrachtet wie ein Heiligtum. Jetzt war ein Fremder erschienen und hatte die alten Regeln einfach ignoriert. Damit mußte er zurechtkommen, die innerliche Veränderung dauerte eben.
Er überlegte noch. Von mir aus gesehen wirkte der Mann, dessen Namen ich nicht mal kannte, schwerfällig und bedrückt. Zudem hielt er den Kopf gesenkt, ich hörte ihn seufzen und schaute zu, wie er nickte.
Dann erst hatte er sich entschlossen, meiner Bitte Folge zu leisten.
Seine Schritte setzte er schwer. Die viel zu weite Kutte schwang beim Gehen vor und zurück. Wieder schlurften die Sohlen über den Boden, und wieder hörte es sich an, als wäre der Wind dabei, Laub vor sich herzutreiben.
Der Alte ging mit unsicheren Bewegungen. Er schwankte. Man hätte wirklich Angst um ihn haben können, und sein Flüstern ging in den schlurfenden Geräuschen unter. Ich konnte mir vorstellen, daß er in einem Gebet um Vergebung bat.
Er tappte die Stufen hoch. Während ich auf ihn wartete, schaute ich mir die Szene auf dem Sims an. Ich wußte ja, was sie im Prinzip bedeutete, aber diesen äthiopischen König Lalibela konnte ich noch immer nicht einschätzen.
Vom Glauben her mußte er der koptischen Kirche angehört haben.
Koptische Christen gab es auch noch heute in Äthiopien wie auch in Ägypten, wo sie allerdings Mühe hatten, sich gegen den übermächtigen Islam zu behaupten.
Lalibela war also Kopte gewesen.
Gottgläubig?
Bestimmt, sonst wäre bei ihm nach vielen Irrungen und Umwegen nicht die Bundeslade gelandet, für die reisende Templer in mühevoller Arbeit die Kirchen errichtet hatten.
War er immer ein rechtschaffener Diener seines Gottes gewesen?
Mir kamen leichte
Weitere Kostenlose Bücher