Stadt der blauen Paläste
Abram sie einst gefragt hatte, ob es der Traum vom capel nero sei, der sie quäle.
Moise nickte wieder.
»Sie haben heute schon wieder eine Decke eingezogen«, sagte er dann schluchzend. »Und es sind neun neue Leute eingezogen. Laute Leute.«
Lea versuchte Moise zu erklären, dass sie in diesem Ghetto keine andere Möglichkeit hätten, als immer neue Stockwerke zwischen die alten zu bauen, weil das Ghetto längst zu klein war für alle Juden in dieser Stadt.
»Fünftausend Menschen«, sagte Moise erregt und begann an seinen Fingern abzuzählen, so, als müssten sie ausreichen, um diese gigantische Zahl darzustellen. »Fünftausend.«
Lea nahm seine Hand in ihre und streichelte Moise liebevoll.
»Wir werden trotzdem alle Platz haben. Auch wenn es noch mehr werden sollten.«
»Wir werden eines Tages untergehen«, sagte Moise hoffnungslos, »alle fünftausend. Stell dir nur vor, was die wiegen, fünftausend Menschen,«
Lea lächelte, sah an sich hinunter und seufzte.
»Es sind nicht alle so dick wie ich«, sagte sie dann entschuldigend. »Es gibt auch welche, die wiegen kaum etwas.«
»Aber wenn wir untergehen, ich meine im Wasser, kriegt doch niemand mehr Luft, oder? Dann ersticken wir doch, oder?«
»Hat das wieder dieser Isaak gesagt?«
»Nein«, erwiderte Moise ernsthaft, »das weiß ich von mir selber.«
»Ich verspreche dir, dass das Ghetto nicht untergehen wird«, sagte Lea laut und strich die feuchten Haare aus Moises Gesicht.
»Aber Malamocco«, schluchzte Moise erneut, »Malamocco ist doch auch untergegangen.«
»Das war vor hunderten von Jahren«, versuchte Lea zu trösten, wohl wissend, dass die Zeit des Untergangs einer Insel kaum ein Trost sein konnte gegen die Ängste dieses Kindes.
»Und weshalb kann so etwas heute nicht mehr geschehen?«, wollte Moise wissen.
»Weil der Messias uns behütet«, sagte Lea zögernd. Und war mit sich im Unklaren, ob sie dem Messias diese ungeheure Bürde aufladen und dieses Kind mit etwas belasten durfte, was es noch kaum verstand. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie einmal belauscht hatte, als Moise vor ihrer Ladentüre spielte und die Kinder ihn gefragt hatten, was er eines Tages werden wolle. Sie erinnerte sich auch an das ungebärdige Gelächter der Kinder, als Moise voller Ehrfurcht den Namen ›Messias‹ genannt hatte. Und an seinen Zorn, mit dem er sich in eine Prügelei eingelassen hatte und blutverschmiert in den Buchladen gerannt kam.
»Wirst du immer bei mir sein?«, flüsterte Moise.
»Natürlich werde ich immer bei dir sein«, sagte Lea voller Gewissheit und so, als wisse sie über ihre Unsterblichkeit.
»Du wirst also mit mir zusammen sein, wenn es so weit ist und wir untergehen?«
Lea lachte.
»Ich werde mit dir etwas völlig anderes tun: Wir beide werden eines Tages zusammen mit vielen anderen Menschen die Ghettotore niederreißen und sie auf dem großen Platz des ghetto nuovo verbrennen. Und jeder wird dann dort wohnen dürfen, wo er will.«
»Du meinst, dass es dann keine christlichen Wächter mehr geben wird, die uns um Mitternacht wieder in den Käfig sperren und die wir dann auch noch bezahlen müssen?«, fragte Moise ungläubig.
»Es wird keine christlichen Wächter mehr geben«, sagte Lea entschieden und strich Moise zärtlich übers Haar.
»Und woher weißt du das so sicher?«
»Ich habe es geträumt.«
»Geträumt?«, fragte Moise noch ungläubiger als zuvor.
»Nicht nur einmal«, erklärte Lea siegessicher, so, als habe sie soeben eine Veröffentlichung der Stadt an der Anschlagsäule am Rialto gelesen, die dies für den nächsten Tag ankündigte. »Ich habe es unzählige Male geträumt. Und sogar aufgeschrieben.«
»Unzählige Male?«, fragte Moise schläfrig und stapfte gähnend zu seiner Schlafbank hinüber. »Dann muss es ja wohl stimmen.«
Lea deckte ihn liebevoll zu und ging erleichtert zu ihrer Schlafstätte zurück. Aber kaum hatte sie das Gefühl, dass sie diese neuerliche Hürde mit Malamocco wieder einmal wunderbar gemeistert hatte, riss Moise noch einmal die Augen auf und sprang aus dem Bett.
»Ich weiß, was wir tun werden!«, sagte er mit Entschiedenheit und rannte an Lea vorbei. »Wir werden gewiss nicht untergehen. Wo hast du dein Bündel?«
»Mein was?«, fragte Lea verstört und richtete sich abrupt auf.
»Nun, dein Bündel«, wiederholte Moise ungeduldig. »Diesen Wäscheklumpen mit den Sachen, die man braucht, wenn man unterwegs ist. Du hast es mir nie gezeigt.«
»Mein Bündel«,
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