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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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fest umrissenes Arbeitsprofil, auf Anhieb konnten sie ihr Fach benennen, Architekturgeschichte oder Philosophie oder Literatur- und Kunstwissenschaft, Filmgeschichte, sogar Literatur des Mittelalters kam vor, und sie alle konnten auch ohne weiteres das Thema der Arbeit hersagen, die sie hier zu befördern dachten. Während ich durch eine Frage nach meinem Arbeitsvorhaben in Verlegenheit geriet, oder sollte ich zugeben, daß ich nichts in der Hand hatte als ein Bündel alter Briefe von einer Toten und daß ich einfach neugierig war auf deren Urheberin, die vor Jahren, als sie diese Briefe an meine ebenfalls verstorbene Freundin Emma schrieb, in dieser Stadt gelebt haben mußte? Und daß mir die Einladung hierher eben auch deshalb zupaß gekommen war und ich nun das Privileg in Anspruch nahm, daß man von einer Autorin belletristischer Bücher nicht allzu genaue Auskunft über ihr Projekt verlangen durfte. Mir aber kam es sehr wahrscheinlich vor, daß ich mit meinem Vorhaben glück- und erfolglos bleiben würde, und auch jetzt noch erscheinen mir die Zufälle unglaublich, die mich am Ende, jedenfalls bei diesem Projekt, zu Glück und Erfolg geführt haben. Wenn ich diese unpassenden Wörter ausnahmsweise einmal benutzen will.
    Am wenigsten peinlich waren mir übrigens meine Ausweichmanöver, die ich vielleicht nur selbst so empfand, gegenüber den beiden Sekretärinnen der Abteilung, Kätchen und Jasmine: die eine mittleren Alters, eher unscheinbar vom Äußeren, doch kundig und erfahren in allen Angelegenheiten, die das CENTER betrafen, absolut zuverlässig und diskret und versiert in jenen technischen Fertigkeiten, bei denen gerade ich am Anfang häufig Hilfe brauchte, und, was wir alle zu schätzen wußten, teilnahmsvoll bei Nöten und Bedrängnissen, die etwa ein Mitglied unserer community betrafen. Die andere, Jasmine, blondund jung und rank und schlank und den Blicken der Männer ein Wohlgefallen, war zuständig für unser leibliches Wohlergehen, für den Postein- und -ausgang und für alle Angelegenheiten außerhalb des Hauses, also die Vermittlung von Treffen mit anderen Personen aus der Stadt, wozu Einladungen in dieses oder jenes Restaurant durch einen der scholars gehörten, denn die Mitarbeiterinnen der Abteilung wußten sich verantwortlich dafür, daß die Neuankömmlinge sich in dieser Fremde bald zu Hause fühlten.
    Ich nahm die Post aus meinem Fach, Jasmine reichte mir ein paar Zeitungen, und Kätchen sagte, auf die Anfrage, die sie auf meine Bitte hin an die libraries der Universität und der Stadt gerichtet habe, sei noch keine Rückmeldung gekommen. Aber es sei sowieso unwahrscheinlich, daß es dort oder an irgendeiner anderen Stelle ein vollständiges Verzeichnis der deutschen Emigranten geben werde, die in den dreißiger und vierziger Jahren hier Zuflucht gefunden hätten. Obwohl, sagte Lutz, mein um vieles jüngerer Landsmann, Kunstwissenschaftler, der nebenan am Kopierer arbeitete, obwohl das schier Unmögliche hier möglich sei, wo, wenn nicht hier. Er nannte gleich ein Beispiel dafür, wie er das Foto von einem Gemälde eines lange vergessenen und gerade wiederentdeckten Malers, den er sich zum Arbeitsgegenstand erwählt hatte, ganz einfach hier im Archiv gefunden habe, nachdem alle Archive Europas es als verschollen gemeldet hatten. Ja gut, sagte ich, ein wenig verlegen, aber ich kenne von der gesuchten Person ja nicht einmal den Namen. Ich kenne ja nichts weiter als eine Initiale, wahrscheinlich von ihrem Vornamen, und diese sei L. Ja dann, sagte Lutz, dann sei das allerdings ein besonders schwieriger Fall. Dann wisse auch er nicht so recht weiter, sagte er, während wir zur Lounge gingen, weil inzwischen Teezeit war und die anderen sich auch dort versammeln würden.
    In der Lounge, wo eine riesige Glaswand das kalifornische Licht ungefiltert hereinließ und den Blick auf den Pazifischen Ozean lenkte und auf den Lauf der Sonne in ihrem großenBogen von links nach rechts, ein Bild, das mir jedesmal den Atem nahm und das seitdem öfter als jedes andere Bild aus jenem Jahr vor meinem inneren Auge ersteht – dort saßen sie, ein jeder hinter der Zeitung seines Herkunftslandes. Wohltätige Gewohnheiten begannen sich auszubilden. Hi! grüßte ich, hi! kam es hinter den Zeitungen zurück. Es gab schon etwas wie Stammplätze, der meine war, zufällig oder nicht, zwischen den beiden Italienern, Francesco, der über Architektur arbeitete, und Valentina, die zu einem kurzen Aufenthalt gekommen war, um

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