Stadt der Engel
Dutzenden Büchsen bei PAVILIONS diejenige Marke empfehlen würde, die diesem Geschmack am nächsten kam. (In der DDR wäre es einmal beinahe zu einem Aufstand gekommen, als die Regierung, um die kostbaren »echten« Bohnen zu strecken, der Bevölkerung einen ungenießbaren Kaffee-Mix zumutete, den sie aber, als in den Betrieben die Proteste dagegen bis zu Streikdrohungen gingen, schnellstens wieder aus dem Verkehr zog.)Bill, der vor mir in meinem Apartment gewohnt hatte und bei einem Freund untergekommen war, hinterließ mir diverse exotische Gewürzmischungen und eine ansehnliche Batterie von Flaschen – Olivenöl, Balsamico-Essig, guten Whiskey und kalifornische Weine. An seinem letzten Tag in der Stadt war er mit mir zum Italiener in der Second Street essen gegangen und hatte mich liebevoll und ironisch in die Gebräuche des alten ms. victoria und in die des jungen CENTER eingeführt. Das Verflixte ist, hatte er gesagt, du kannst über die Geschichte von good old Europe nirgendwo besser arbeiten als hier in der Neuen Welt. Besessen sammeln sie alles, was den alten Kontinent betrifft, so als wollten sie, wenn Europa durch Atombomben oder durch andere Katastrophen unterginge, jedenfalls eine Kopie davon hier bereithalten. Bill arbeitete über die Geschichte des Katholizismus in Spanien und Frankreich und rechnete mir die Tausende von Menschenopfern vor, welche die verschiedenen Christianisierungsschübe in diesen Ländern gefordert hatten. Bei jeder Kolonisierung, sagte er, sei es das erste, die Religion, den Glauben der Unterworfenen auszurotten, um ihnen ihre Identität zu nehmen. Außerdem, das höre sich vielleicht unglaubhaft an, hätten die Eroberer aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex heraus das dringende Bedürfnis, nicht nur ihre Waffen, nicht nur ihre Waren, auch ihre Glaubens- und Gedankenwelt als die überlegene zu behaupten. Das weiß ich doch, hatte ich gesagt, und Bill, der Engländer, hatte mich prüfend angesehen: Ihr erfahrt das gerade, wie? Er hatte nicht auf einer Antwort bestanden. Manchmal, wenn ich abends ein Glas Wein aus seinem Vorrat trank, stieß ich in Gedanken mit ihm an.
Viele Male machte ich mich also morgens auf den Weg, durch den blühenden Vorgarten des ms. victoria , der mit fremden Gewächsen ausgestattet war und in dessen Mitte in einem Rondell ein Pomeranzenbäumchen stand, dessen Früchte ich reifen sah. Die Autos hier schlichen sich in ihrer außerordentlichen Breite vorsichtig an die Kreuzungen heran, sie hielten höflichan, selbst wenn kein grünes Ampelmännchen den Fußgängern WALK erlaubte, sie wiegten sich sanft in ihren Federungen, freundliche, gut gekleidete und sorgfältig frisierte Fahrerinnen oder smarte Fahrer in dunklen Anzügen mit Schlips und Kragen ließen mit lässigen Handbewegungen der Fußgängerin den Vortritt, ohne Hast überquerte ich die California Avenue, nahm ich die im November, Dezember grellrot blühenden Bäume am Straßenrand überhaupt noch wahr? Herbstlaub, graue Nebeltage blieben mir in diesem Jahr erspart, aber auch versagt. Vermißte ich sie schon?
Jederzeit kann ich das CENTER vor meinem inneren Auge aufsteigen lassen, damals ein vielstöckiges sachliches Bürogebäude, das inzwischen längst durch einen spektakulären postmodernen Gebäudekomplex hoch über der Stadt ersetzt ist. Eine breite Außentreppe also, die zu einer Reihe von Säulen hin aufsteigt, durch die ich mich jeden Tag auf die riesigen spiegelnden gläsernen Flügeltüren zugehen sah. Von sechs möglichen Türen zog ich immer die gleiche auf, betrat die mächtige Vorhalle, wo tagein tagaus an immer dem gleichen Platz immer der gleiche Mann postiert war, Pförtner oder Wächter, der bevorzugte Besucher mit ausgestrecktem rechten Arm und vertraulichem Fingerschnippen begrüßte, und der seinen wachsamen Blick auch über das weitläufige Schaltergelände der First Federal Bank schweifen ließ, in welches die Halle rechterhand überging. Die Bank übrigens, der ich schon mehrmals meinen vierzehntägig eintreffenden Scheck anvertraut hatte und die mich zwar mündlich und schriftlich ihrer Dankbarkeit für diesen Vertrauensbeweis versichert, ihrerseits aber wenig Vertrauen in meine finanzielle Seriosität bekundet hatte; denn immer noch vermißte ich jene ATM-Card, die mich in den Stand setzen würde, bares Geld, cash, am Geldautomaten zu ziehen, worüber die Damen hinter den Schaltertischen sich ein ums andere Mal sehr betrübt gezeigt und mit Zusicherungen nicht
Weitere Kostenlose Bücher