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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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uns zum Schweigen.
    »Zeigt etwas Respekt!«, schimpfte ein Händler für Alt-Austern. Er stellte seinen Korb mit Schalentieren ab und verpasste Yohn, der etwas gerufen hatte, eine schnelle Ohrfeige. Anschließend beobachtete er den Rücken des alten Mannes. Ich erinnere mich, dass ich plötzlich eines wusste, obwohl mir die Wörter fehlten, um es auszudrücken: Der Zorn des Händlers war nicht vollständig gegen uns gerichtet, und das Missfallen, das er uns gegenüber zum Ausdruck brachte, galt zumindest teilweise jenem Mann.
    »Sie sind nicht glücklich darüber, wo er lebt«, erklärte Papa Berdan, der Schichtvater, als ich ihm an jenem Abend davon erzählte. Ich wiederholte die Geschichte mehr als einmal. Dabei beschrieb ich den Mann, dem wir vorsichtig und verwirrt gefolgt waren, und ich erkundigte mich beim Vater nach ihm. Ich fragte, warum die Nachbarn nicht glücklich waren. Er lächelte verlegen und gab mir einen Gutenachtkuss. Ich starrte aus meinem Fenster und konnte nicht schlafen. Ich beobachtete die Sterne und die Monde, das Schimmern von Wrack .
    Ich kann die folgenden Ereignisse exakt datieren, da sie am Tag nach meinem Geburtstag geschahen. Ich war in einer Art und Weise melancholisch, die mich jetzt amüsiert. Es war später Nachmittag, der dritte sechzehnte September, ein Domintag. Ich saß allein, dachte über mein Alter nach (was für ein törichter kleiner Buddha!) und wirbelte mein Geburtstagsgeld an der Münzwand herum. Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete, blickte jedoch nicht auf. So mochten Sekunden vergangen sein, bis der Mann vom Haus vor mir stand, während ich spielte. Als ich ihn bemerkte, schaute ich voller Angst und Fassungslosigkeit zu ihm hoch.
    »Mädchen«, sagte er und gab mir ein Zeichen. »Bitte komm mit mir.«
    Ich erinnere mich nicht, dass ich daran gedacht hätte, einfach wegzulaufen. Was konnte ich anderes tun, als zu gehorchen?
    Sein Haus war erstaunlich. Es gab einen langen Raum in dunklenFarben, mit Möbeln, Bildschirmen und Statuetten überladen. Dinge bewegten sich; Automa gingen ihren Aufgaben nach. Wir hatten Kletterpflanzen an den Wänden unseres Kinderhorts, aber nichts, was diesen glänzenden und schwarz belaubten Sehnen glich, die in Bögen und Spiralen wuchsen, so perfekt, dass sie wie Drucke aussahen. Die Wände wurden zudem von Gemälden und Plasmings bedeckt, deren Bewegungen sich wandelten, als wir eintraten. Auf Monitoren in uralten Rahmen änderten sich die Informationen. Handgroße Geister bewegten sich zwischen Topfpflanzen auf einem Trid wie ein Perlmutt-Spielebrett.
    »Dein Freund.« Der Mann wies auf das Sofa. Yohn lag darauf.
    Ich sagte seinen Namen. Seine gestiefelten Füße waren oben auf dem Polster, seine Augen geschlossen. Er war rot und keuchte.
    Ich schaute den Mann an und fürchtete, dass er mir das antun würde, was auch immer er anscheinend Yohn angetan hatte.
    Er wich meinem Blick aus und hantierte stattdessen mit einer Flasche. »Sie haben ihn zu mir gebracht«, berichtete er. Dann schaute er sich um, als ob er nach einer Eingebung suchte, wie er mit mir sprechen sollte. »Ich habe die Polizei gerufen.«
    Er setzte mich auf einen Hocker neben meinem kaum noch atmenden Freund und hielt mir ein Glas hin. Ich starrte es argwöhnisch an, bis er selbst daraus trank. Er schluckte und zeigte mir, dass er getrunken hatte, indem er mit dem offenen Mund aufatmete. Er drückte das Gefäß in meine Hand. Ich schaute auf seinen Nacken, doch ich konnte kein Verbindungselement sehen.
    Ich nippte an dem, was er mir gegeben hatte.
    »Die Polizisten sind auf dem Weg hierher«, meinte er. »Ich habe dich spielen gehört. Ich habe gedacht, es würde ihm vielleicht helfen, eine Freundin bei sich zu haben. Du könntest seine Hand halten.« Ich stellte das Glas ab und tat, was er gesagt hatte. »Du könntest ihm sagen, dass du hier bist. Sag ihm, dass es ihm wieder gutgehen wird.«
    »Yohn, ich bin’s. Avice.« Nach einem Moment des Schweigens tätschelte ich Yohn die Schulter. »Ich bin hier. Dir wird es wieder gutgehen, Yohn.« Ich war aufrichtig besorgt und schaute auf, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen.
    Doch der Mann schüttelte den Kopf und lachte. »Dann halt nur seine Hand«, erklärte er.
    »Was ist passiert, Sir?«, fragte ich.
    »Sie haben ihn gefunden. Er ist zu weit gegangen.«
    Der arme Yohn sah sehr krank aus. Ich wusste, was er getan hatte.
    Yohn war der zweitbeste Südgeher in unserer Clique. Er konnte nicht mit Simmon konkurrieren,

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