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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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gewickelt. Bren entzog sich dem nicht. Sie standen in höflichem Schweigen beieinander und schauten mich beide an.
    Im Kinderhort regten sie sich wegen mir unnötig auf. Auch wenn der Polizist allen versicherte, dass ich nichts Falsches getan hätte, schien es den Personaleltern ein wenig verdächtig zu sein, in was ich da wohl hineingeraten war. Doch sie waren anständig, weil sie uns liebten. Sie konnten sehen, dass ich einen Schock hatte. Wie konnte ich Yohns zitternde Gestalt vergessen? Mehr noch – wie konnte ich vergessen, so ganz in der Nähe eines Gastgebers und der Geräusche seiner Stimme gewesen zu sein? Was geschehen war, verfolgte mich, keine Frage, genau wie die gewissenhafte, auf mich gerichtete Aufmerksamkeit des Gastgebers.
    »Da hatte also heute jemand Drinks mit dem Botschaftspersonal, nicht wahr?«, neckte mich mein Schichtvater, als er mich ins Bett brachte. Es war Papa Shemmi, mein Lieblingsschichtvater.
    Später im Außen interessierte ich mich ein wenig für die vielen verschiedenen Formen von Familie. Ich erinnere mich nicht, dass ich – oder die meisten anderen Kinder von Botschaftsstadt – irgendein spezielles Gefühl von Eifersucht gegenüber jenen unserer Schichtgeschwister empfunden hätte, die bisweilen Besuch von ihren Bluteltern erhielten. Das war nichts, was für uns von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Ich habe nie genauer nachgeforscht, doch im späteren Leben fragte ich mich, ob unser Schicht-und-Kinderhort-System soziale Praktiken der Gründer von Botschaftsstadt fortführte(Bremen ist lange Zeit recht locker darin gewesen, eine Vielfalt von Gebräuchen in dem von ihm regierten Gebiet zu tolerieren) oder ob es ein wenig später aufgekommen war. Vielleicht geschah dies in einem vagen gesellschaftsevolutionären Einklang mit dem institutionellen Aufstieg unserer Botschafter.
    Wie auch immer. Ab und an hörte man schreckliche Geschichten von den Kinderhorten, gewiss. Doch auf der anderen Seite hörte ich im Außen auch schlimme Geschichten von Leuten, die von denen aufgezogen worden waren, die sie geboren hatten. In Botschaftsstadt hatten wir alle unsere Lieblingsschichtväter oder -mütter und jene, vor denen wir uns mehr fürchteten – jene, deren Wochen im Dienst wir genossen, und jene, bei denen das nicht der Fall war; jene, zu denen wir gingen, um getröstet zu werden, und jene, die wir um Rat fragten; jene, die wir bestahlen, und so weiter. Doch unsere Schichteltern waren gute Leute. Und Shemmi liebte ich am meisten.
    »Warum mögen es die Leute nicht, dass Mr. Bren dort lebt?«
    »Nicht ›Mr Bren‹, mein Schatz. Nur ›Bren‹. Sie – einige von ihnen – halten es nicht für richtig, dass er so in der Stadt lebt.«
    »Und was hältst du davon?«
    Er zögerte. Schließlich antwortete er: »Ich denke, sie haben recht. Ich glaube, es ist … ungeziemend. Es gibt Orte für die Getrennten.«
    Ich hatte dieses Wort schon früher einmal gehört, und zwar von Papa Berdan.
    »Abgeschiedene Heime nur für sie, sodass … Es ist abstoßend, das zu sehen, Avvy. Er ist ein komischer Mensch. Ein mürrischer alter Fiesling. Armer Mann. Aber es ist nicht gut, das zu sehen. Diese Art von Wunde.«
    Es ist Ekel erregend , sagte einer meiner Freunde später. Sie hatten diese Einstellung von weniger liberalen Schichteltern gelernt. Der widerliche alte Krüppel sollte doch ins Sanatorium gehen, meinten sie. Lasst ihn in Ruhe , entgegnete ich. Er hat Yohn gerettet.
    Yohn wurde wieder gesund. Sein Erlebnis hielt uns jedoch nicht davon ab, unser Spiel fortzuführen. Ich ging ein wenig weiter und im Verlauf von Wochen noch ein wenig weiter, doch ich erreichte niemals Yohns Markierungen. Das Ergebnis seines gefährlichenExperiments, seine letzte Markierung, befand sich viele Meter jenseits seiner anderen: der Anfangsbuchstabe seines Namens, in einer schauderhaften Handschrift geschrieben. »Dort bin ich in Ohnmacht gefallen«, erzählte er uns später. »Fast wäre ich gestorben.« Nach seinem Unfall war er niemals mehr in der Lage, auch nur annähernd so weit zu gehen. Er blieb der Zweitbeste, wegen seiner Geschichte, aber ich konnte ihn jetzt schlagen.
    »Wie soll ich Brens Namen richtig schreiben?«, fragte ich noch an jenem Abend Papa Shemmi, und er zeigte es mir.
    »Bren« , sagte er und fuhr mit seinem Finger das Wort nach: sieben Buchstaben; vier davon sprach er aus, drei konnte er nicht.

0.2
    Als ich sieben Jahre alt war, verließ ich Botschaftsstadt. Zum Abschied küsste ich meine

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