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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Die Kinder der Botschaft sahen alle, wie das Schiff anlegte. Ihre Lehrer und Schichteltern hatten sie das tagelang malen lassen. Eine Wand in dem Raum war den Kindern und ihren Ideen überlassen worden. Es ist Jahrhunderte her, dass irgendein Leere-Schiff einen Feuerschweif hinter sich hergezogen hat, so wie die Kinder es sich auf ihren Bildern vorstellten. Dennoch ist es Tradition, die Leere-Schiffe so darzustellen, und als ich jung war, malte ich sie auf die gleiche Art und Weise.
    Ich schaute auf die Bilder, und auch der Mann neben mir beugte sich vor. »Schauen Sie«, sagte ich. »Sehen Sie es? Das sind Sie.« Ein Gesicht am Fenster des Schiffs. Der Mann lächelte. Er griff nach einem imaginären Steuerrad, so wie die einfach wiedergegebene Figur es tat.
    »Sie müssen uns entschuldigen«, erklärte ich und nickte in Richtung der Dekorationen. »Wir sind ein bisschen provinziell.«
    »Nein, nein«, erwiderte der Pilot. Ich war älter als er, gut gekleidet und benutzte einen Jargon, um ihm Geschichten zu erzählen. Er fand Gefallen daran, dass ich ihn durcheinanderbrachte. »Wie auch immer«, meinte er. »Das ist nicht … Es ist dennoch erstaunlich. Hierherzukommen. Zum Rand. Und der Herrgott allein weiß, was dahinter ist.« Er schaute zum Ankunftsball.
    Es gab andere Festlichkeiten: zu den Jahreszeiten und zur offiziellen Einführung in die Gesellschaft, zu Schul- und Studienabschlüssen, zum Jahresende und während der drei Weihnachten des Dezembers. Doch der Ankunftsball war immer das wichtigste Fest. Da er von den Wechselfällen der Passatwinde abhing, fand er unregelmäßig und selten statt. Seit dem letzten waren Jahre vergangen.
    Die Halle der Diplomatie war überfüllt. Sicherheitsmitarbeiter, Lehrer, Ärzte und einheimische Künstler hatten sich unter das Personal der Botschaft gemischt, Delegierte von abgeschiedenen Außenseitergemeinschaften zählten ebenso zu den Gästen wie Farmer aus abgelegenen Niederlassungen. Es gab allerdings nur sehr wenige Neuankömmlinge aus dem Außen; sie trugen Kleider, die von den Einheimischen bald nachgeahmt würden. Die Mannschaft würde am nächsten oder übernächsten Tag schon wieder abreisen. Ankunftsbälle fanden stets am Ende eines Besuchs statt, als ob man eine Ankunft und die Abreise zugleich feierte.
    Es spielte ein Streichseptett, zu dem auch meine Freundin Gharda gehörte. Sie sah mich und entschuldigte sich mit einem Stirnrunzeln für die grobe Gigue, mit der sie gerade halb durch waren. Junge Männer und Frauen tanzten und brachten damit ihre Vorgesetzten und Ältesten in Verlegenheit, die ihrerseits – zum Vergnügen ihrer jüngeren Kollegen – manchmal eine witzig gestelzte Pirouette schwingen oder drehen würden.
    Neben den Kinderzeichnungen, die vorübergehend die Halle schmückten, gab es auch permanent aufgehängte Bilder: Ölgemälde und Gouachen, Flat- und Trid-Fotografien vom Personal, von Botschaftern und Attachés – sogar von Gastgebern. Sie illustrierten die Geschichte der Stadt. Kletterpflanzen wuchsen über die volle Höhe der Wandtäfelung bis zu einem Ziergesims, von wo aus sie sich zu einem Dickicht unter der Decke erweiterten, das einem Baumkronendach ähnelte. Das Holz war so gestaltet, dass es die Pflanzen stützte. Vesp-Cams schwirrten zwischen den Blättern und übertrugen Bilder aus dem Saal.
    Ein Sicherheitsmann, mit dem ich Jahre zuvor befreundet gewesen war, winkte mir mit seiner Prothese einen kurzen Gruß zu. Seine Umrisse zeichneten sich vor einem meterhohen und -breiten Fenster ab, von dem aus man die Stadt und Lilypad Hill überblicken konnte. Hinter diesem Hang lag das mit Fracht beladene Schiff. Jenseits von Dächern, die sich kilometerweit erstreckten, vorbei an den sich drehenden Kirchenleuchtfeuern, konnte man noch die Kraftwerke erkennen. Durch die Landung waren sie unruhig geworden, und selbstjetzt, Tage danach, zeigten sie sich immer noch launisch. Ich konnte sie stampfen sehen.
    »Das sind Sie gewesen«, sagte ich zum Steuermann und wies auf die Kraftwerke hin. »Das war Ihr Fehler.« Er lachte, schaute jedoch nur halb hin. Er wurde von so ziemlich allem abgelenkt. Das war sein erster Anflug gewesen.
    Ich glaubte, einen Leutnant von einer früheren Feier her wiederzuerkennen. Bei seiner letzten Ankunft, die Jahre zurücklag, hatte ein milder Herbst über der Botschaft gelegen. Er war mit mir durch das Laub der hochflurigen Gärten spazieren gegangen und hatte den Blick auf die Gastgeberstadt gerichtet, wo es

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