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Stadt unter dem Eis

Titel: Stadt unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Greanias
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Welch eine Ironie, dass ihre Klamotten ihr so wichtig waren, wo sie doch wusste, dass die Wolle und die Seide mit dem Schweiß eines armen Kindes in einer Fabrik in Fernost gesponnen worden waren, um das weltweite Konsumbedürfnis zu befriedigen! Die Kleidung und das damit verbundene Image stand für alles, was sie hasste, aber sie benutzte es, um im Medienzeitalter, das sich stärker für das Aussehen als die guten Taten einer ehemaligen Nonne interessierte, Spenden zu sammeln und Bewusstsein zu schaffen. Das war nun einmal der Lauf der Welt.
    Ob Jesus zu diesem Zweck wohl auch Armani getragen hätte?
    Die Welt war schon ziemlich verrückt, und sie fragte sich nicht selten, ob Gott sie so geschaffen hatte oder einfach nur zugelassen hatte, dass sie sich auf derart abscheuliche Weise veränderte. Sie hätte es jedenfalls anders gemacht.
    Das Büro, das sie aufsuchen sollte, befand sich im 4. Stock und gehörte dem Geheimdienstchef des Vatikans, einem gewissen Kardinal Tucci. Er sollte sie instruieren und dann zur Privataudienz mit dem Papst in die päpstliche Residenz begleiten. Der Kardinal war nirgends zu sehen, aber der Jesuit führte sie dennoch in das Büro hinein.
    Das Arbeitszimmer war älter und eleganter eingerichtet, als man angesichts Tuccis Ruf erwartet hätte. Bilder aus dem Mittelalter und alte Landkarten zierten die Wände und nicht etwa moderne, zeitgenössische Kunst, die Tucci angeblich bevorzugte.
    Der Mann, der in einem schwarzen Lederstuhl zwischen zwei Blaeu-Globen aus dem 17. Jahrhundert saß, sah auch irgendwie älter und eleganter aus. Die weißen Insignien mit dem goldenen Spitzenbesatz am Hals harmonierten perfekt mit dem weißen Haar. Er sah gut aus, ein durch und durch weltmännischer Mann des Glaubens. Seine Augen wirkten klar und intelligent, als er von den Akten, die er studierte, aufblickte.
    »Schwester Serghetti«, stellte ihr jesuitischer Begleiter sie vor. »Seine Heiligkeit, der Papst.«
    Der Papst musste ihr nicht erst vorgestellt werden.
    »Heiliger Vater«, sagte sie, nachdem der Jesuit die Tür hinter ihr geschlossen hatte.
    Der mächtige Mann kam ihr weder streng noch fromm vor. Vielmehr strahlte er die geschäftstüchtige Aura eines Top-Managers aus. Mit dem Unterschied allerdings, dass sein Unternehmen nicht an den Börsen von New York, London oder Tokio notiert wurde. Ebenso wenig wurde sein künftiges Wachstum in Einheiten wie Quartalen, Jahren oder gar Jahrzehnten prognostiziert. Das Unternehmen bestand bereits seit über 2.000 Jahren und maß den Erfolg mit dem Maßstab der Ewigkeit.
    »Schwester Serghetti.« Die Stimme des Papstes vermittelte echte Zuneigung, als er sie bat, doch bitte Platz zu nehmen. »Es ist schon so lange her.«
    Überrascht und misstrauisch ließ sie sich auf einen Lederstuhl sinken, während er ihre Akte überflog.
    »Proteste in Sachen Ozon vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York«, las er mit ruhiger, aber klangvoller Stimme vor. »Weltweiter Boykott von Pharma-Unternehmen. Ihre Homepage hat mehr Besucher als meine.« Mit regen, leuchtenden Augen blickte er von der Akte auf. »Manchmal frage ich mich, ob die Besessenheit, mit der Sie die Erde vor den Menschen retten wollen, nicht dem tiefen inneren Bedürfnis entspringt, sich selbst zu erlösen.«
    Sie rutschte auf dem Lederstuhl hin und her. Er war hart und unbequem. »Erlösung wovon, Heiliger Vater?«
    »Sie wissen, dass ich Ihren Vater kannte.«
    Das wusste sie.
    »Ich war jener Bischof, den er damals um Rat fragte, als er von der Schwangerschaft Ihrer Mutter erfuhr«, sagte der Papst.
    Das war Serena neu.
    »Er wollte, dass Ihre Mutter eine Abtreibung vornahm.«
    »Das wundert mich ganz und gar nicht.« Es fiel ihr schwer, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich gehe mal davon aus, Sie haben ihm davon abgeraten?«
    »Ich sagte ihm, Gott könne selbst aus den widrigsten Umständen etwas Schönes machen.«
    »Verstehe.«
    Serena wusste nicht, ob der Papst nun von ihr erwartete, dass sie ihm als ihrem Lebensretter dankte, oder ob er nur einfach das Geschehene erzählte. Er beobachtete sie genau, soviel war ihr klar. Nicht wertend oder mitleidig. Er schien einfach nur neugierig zu sein.
    »Ich wollte Sie schon immer etwas fragen, Serena«, fuhr der Papst fort, und Serena lehnte sich vor. »Wie können Sie Jesus in Anbetracht der Umstände Ihrer Geburt überhaupt lieben?«
    »Wegen der Umstände seiner Geburt«, antwortete sie. »Wäre Jesus nicht der einzige

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