Stadt unter dem Eis
älteste Aimara-Mythos berichtet von merkwürdigen Ereignissen am Titicacasee nach der großen Flut«, erklärte sie. »Fremde Völker sollen auf dem See eine Stadt zu bauen versucht haben.«
»Tiahuanaco«, sagte der Papst, »mit dem großartigen Sonnentor.«
»Der Heilige Vater weiß gut Bescheid. Die verlassene Stadt soll ursprünglich von den Leuten aus Aztlán, dem untergegangenen Inselparadies der Azteken, bewohnt gewesen sein.«
»Ein verlorenes Paradies. Interessant.«
»Ein weit verbreiteter Mythos aus der Zeit vor der großen Flut, Heiliger Vater. Viele Mythen erzählen im Zusammenhang mit einer Sintflut von einem verlorenen Paradies. Da gibt es natürlich den Bericht des griechischen Philosophen Platon über Atlantis. Auch die Haida-Indianer und die Sumerer haben eine ähnliche Geschichte über ihre Anfänge.«
Der Papst nickte. »Man kann sich das kaum vorstellen. Zwei so unterschiedliche Kulturen wie die der Haida und die der Sumerer. Die einen am Pazifik, im regnerischen Nordwesten Amerikas, und die anderen in den öden Wüsten des Iraks.«
»Selbst die Tatsache, dass es bei zwei verschiedenen Kulturen einen gemeinsamen Mythos über ein und dasselbe Ereignis gibt, ist noch lange kein Beweis dafür, dass dieses Ereignis auch wirklich stattgefunden hat«, entgegnete sie, ganz trockene Wissenschaftlerin. »Fossilienfunde und geologische Erkenntnisse zeigen zwar, dass es eine große Flut, eine Eiszeit und so weiter gegeben hat; aber ob es nun auch einen Noah gegeben hat, der eine Arche baute, und ob er Asiat, Afrikaner oder quasi Europäer war, das ist alles reine Spekulation. Und es gibt sicherlich keinen Beweis für die Existenz eines verlorenen Paradieses.«
»Was schließen Sie dann aus diesen sich ähnelnden Geschichten?«
»Ich habe sie immer schon als Zeichen für die Universalität des menschlichen Geistes angesehen.«
»Für Sie ist die Schöpfungsgeschichte also nichts anderes als eine Metapher?«
Serena hatte beinahe schon vergessen, dass der Papst die Angewohnheit hatte, jedes Thema auf den Glauben zurückzuführen. Sie nickte bedächtig. »Vermutlich ja.«
»Sie sind sich da wohl nicht ganz sicher.«
»Doch. Ganz sicher.« Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Er hatte sie dazu gebracht.
»Und die Kirche? Eine gute Idee, die nicht gut ausgegangen ist?«
»Die Kirche auf Erden ist wie alle menschlichen Einrichtungen korrupt«, sagte sie. »Aber sie hat uns auch Krankenhäuser, Waisenhäuser und Hoffnung für die Menschheit gebracht. Ohne sie versänke die Zivilisation im moralischen Abgrund.«
»Es freut mich, dass Sie das sagen.« In den Augen des Papstes lag Güte und in seiner Stimme ein Anflug von Unsicherheit, als er nun eine Bitte an sie richtete. »Schwester Serghetti, gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob der Heilige Geist Ihr Herz nicht dazu bewegen könnte, eine heilige Mission zu übernehmen, die Ihrer Berufung als Mutter Erde wahrlich gerecht wird.«
Das Einzige, was der Heilige Geist ihr einflüsterte, war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie hatte den Vatikan kritisiert und die Kirchengemeinde verlassen. Und jetzt bat sie der Papst, seine offizielle Gesandte zu werden. »Um was für eine Mission handelt es sich denn?«
»Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie in beobachtender und beratender Funktion offiziell für die Einhaltung des internationalen Antarktisvertrages zuständig.«
»Ich berate das Komitee für den Umweltschutz«, sagte Serena. »Aber ich vertrete darin Australien, Heiliger Vater, nicht die Kirche.«
Der Papst nickte und klopfte mit den Fingern auf die Armlehne. »Kennen Sie die jüngsten Berichte über seismische Aktivitäten in der Antarktis?«
»Selbstverständlich, Heiliger Vater. Ein Gletscher von der Größe Delawares wurde nach dem jüngsten Beben vergangenen Monat abgespalten. Und davor war schon einer von der Größe Rhode Islands abgebrochen. Das könnte sich bald zu einer Fläche von der Ausdehnung der gesamten amerikanischen Ostküste summieren.«
»Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen jetzt verrate, dass unser Nachrichtendienst eine geheime und illegale amerikanische Militärexpedition in der Antarktis entdeckt hat? In einem Gebiet, das von Ihrem Land, Australien, beansprucht wird.«
»Ich würde sagen, dass die Amerikaner das Madrid-Protokoll von 1991 verletzen, in dem die Antarktis zu einer Friedenszone erklärt wurde, die ausschließlich wissenschaftlichen Forschungszwecken vorbehalten ist. Militäraktionen jeglicher
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