Stark (Dark Half)
Prolog
„Schneide ihn“, sagte Maschine. „Schneide ihn, solange ich hier stehe und zusehe. Ich will Blut fließen sehen.
Lass es nicht dazu kommen, dass ich es zweimal sagen muss“
Machinès Way
Von Georg Stark
Das Leben der Menschen - ihr wirkliches Leben im Gegensatz zu ihrer simplen physischen Existenz - beginnt zu unterschiedlichen Zeiten. Das wirkliche Leben von Thad Beaumont, einem Jungen, der in Bergenfield, New Jersey, geboren wurde und dort aufgewachsen war, begann im Jahre 1960.
In diesem Jahr widerfuhren ihm zwei Dinge. Das erste formte sein Leben; das zweite hätte es beinahe beendet.
1960 war Thad Beaumont elf Jahre alt.
Im Januar nahm er mit einer Kurzgeschichte an einem von der Zeitschrift American Teen ausgeschriebenen Wettbewerb teil. Im Juni erhielt er einen Brief vom Chefredakteur der Zeitschrift, in dem es hieß, ihm sei in der Kategorie Belletristik des Wettbewerbs eine Ehrenvolle Erwähnung zuteil geworden. Weiterhin hieß es in dem Brief, die Juroren hätten ihm den zweiten Preis zuerkannt, wenn aus seinem Begleitschreiben nicht hervorgegangen wäre, dass er zwei Jahre zu jung war, um tatsächlich ein »American Teen« zu sein. Dennoch sei seine Kurzgeschichte »Outside Marty's House« ein außerordentlich reifes Werk, zu dem man ihm gratulieren müsse.
Zwei Wochen später traf eine Urkunde von American Teen ein. Per Einschreiben. Auf der Urkunde stand sein Name in Buchstaben, die so verschnörkelt waren, dass er sie kaum lesen konnte: am unteren Ende befand sich ein goldenes Siegel mit dem eingeprägten Symbol von American Teen — den Silhouetten eines kurzhaarigen Jungen und eines Mädchens mit Pferdeschwanz, die Jitterbug tanzten.
Seine Mutter nahm Thad, einen stillen, ernsten Jungen, der anscheinend nie etwas in der Hand behalten konnte und oft über die eigenen Füße stolperte, in die Arme und erstickte ihn beinahe mit Küssen.
Sein Vater war unbeeindruckt.
»Wenn die Geschichte tatsächlich so gut war, warum haben sie ihm dann nicht ein bisschen Geld gegeben?«
knurrte er aus der Tiefe seines Sessels heraus.
»Glen. ..«
»Aber lassen wir das. Vielleicht kann mir unser Ernest Hemingway ein Bier holen, wenn du damit fertig bist, ihn abzuknutschen.«
Seine Mutter sagte nichts weiter - aber sie ließ den Brief und die Urkunde rahmen, bezahlte dafür mit ihrem Taschengeld, und hängte sie in seinem Zimmer über dem Bett auf. Wenn Verwandte oder andere Besucher kamen, führte sie sie hinauf und zeigte sie ihnen. Thad, erklärte sie ihren Gästen, würde einmal ein großer Schriftsteller werden. Sie hatte immer gespürt, dass er zu Großem bestimmt war, und hier war der erste Beweis dafür. Das machte Thad verlegen, aber er liebte seine Mutter zu sehr, um es ihr zu sagen.
Doch ungeachtet seiner Verlegenheit kam Thad zu dem Schluss, dass seine Mutter zumindest teilweise recht hatte. Er wusste nicht, ob er so begabt war, dass er ein großer Schriftsteller werden konnte, aber Schriftsteller würde er auf jeden Fall werden. Schließlich konnte er schreiben. Und was noch wichtiger war - er hatte Spaß daran, zumal, wenn sich die richtigen Worte einstellten. Und man würde ihm nicht immer aus einem formellen Grund sein Geld vorenthalten können. Er würde nicht ewig elf Jahre alt sein.
Die zweite wichtige Sache, die ihm 1960 widerfuhr, begann im August. Das war die Zeit, in der seine Kopfschmerzen anfingen. Anfangs waren sie nicht schlimm, aber als Anfang September die Schule wieder losging, hatten sich die leisen, lauernden Schmerzen in seinen Schläfen und hinter seiner Stirn zu einem monströsen Marathon von Qualen weiterentwickelt. Wenn ihn diese Kopfschmerzen überfielen, konnte er nichts tun, als in seinem abgedunkelten Zimmer zu liegen und darauf zu warten, dass er sterben würde. Ende September hoffte er, dass er sterben würde. Und Mitte Oktober waren die Schmerzen so unerträglich geworden, dass er Angst davor hatte, am Leben zu bleiben.
Das Herannahen der entsetzlichen Kopfschmerzen kündigte sich gewöhnlich durch ein Phantomgeräusch an, das nur er hören konnte - es klang wie das ferne Tschilpen von Tausenden kleiner Vögel. Manchmal bildete er sich ein, diese Vögel, vermutlich Sperlinge, sehen zu können; sie hockten, wie sie es im Frühjahr und im Herbst oft taten, auf Telefonleitungen und Dachfirsten.
Seine Mutter brachte ihn zu Dr. Seward.
Dr. Seward untersuchte seine Augen mit einem Ophthalmoskop und schüttelte den Kopf. Dann zog er die Vorhänge
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