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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Vane, des Mordes an Philip Boyes durch Vergiftung mit Arsen. Ich brauche Sie nicht mit einer nochmaligen Aufzählung der Beweise aufzuhalten, die Sir James Lubbock und die anderen Sachverständigen uns hinsichtlich der Todesursache vorgetragen haben. Laut Anklage starb Philip Boyes an Arsenvergiftung, und das wird von der Verteidigung nicht bestritten. Es kann daher als sicher gelten, daß der Tod durch Arsen herbeigeführt wurde, so daß Sie dies als Tatsache akzeptieren müssen. Die Frage, die Sie entscheiden sollen, ist nur, ob das Arsen dem Opfer von der Angeklagten vorsätzlich und mit der Absicht, ihn zu ermorden, verabreicht wurde.
    Der Verstorbene, Philip Boyes, war, wie Sie gehört haben, Schriftsteller. Er war sechsunddreißig Jahre alt und hatte fünf Romane sowie zahlreiche Essays und Artikel veröffentlicht. Alle diese literarischen Arbeiten waren ›fortschrittlich‹, wie man das manchmal nennt. Sie verbreiteten Lehren, die manchem von uns unmoralisch oder aufwieglerisch vorkommen mögen, wie Atheismus und Anarchie und das, was man als ›freie Liebe‹ bezeichnet. Sein Privatleben scheint, wenigstens eine Zeitlang, diesen Lehren entsprochen zu haben.
    Jedenfalls lernte er irgendwann im Jahre 1927 Harriet Vane kennen. Sie begegneten sich in einem dieser Künstler- und Literatenkreise, in denen man ›fortschrittliche‹ Gedanken diskutiert, und nach einiger Zeit freundeten sie sich eng miteinander an. Die Angeklagte ist von Beruf ebenfalls Schriftstellerin, und es ist hier wichtig zu wissen, daß sie sogenannte Kriminal- oder Detektivgeschichten schreibt, die sich meist mit verschiedenerlei raffinierten Methoden für Mord und andere Verbrechen befassen.
    Sie haben die Angeklagte selbst im Zeugenstand gehört, und Sie haben die verschiedensten Leute Zeugnis über ihren Charakter ablegen hören. Sie haben vernommen, daß sie eine nach streng religiösen Prinzipien erzogene junge Frau von großer Begabung sei, die ohne eigenes Verschulden bereits mit dreiundzwanzig Jahren in die Lage kam, sich in der Welt allein behaupten zu müssen. Seit dieser Zeit – sie ist jetzt neunundzwanzig Jahre alt – hat sie sich ihren Lebensunterhalt mit fleißiger Arbeit verdient, und es spricht sehr für sie, daß sie es vermocht hat, sich aus eigener Anstrengung und auf legitime Weise unabhängig zu machen, sich niemandem zu verpflichten und von keiner Seite Hilfe in Anspruch zu nehmen.
    Sie hat uns mit großer Offenheit berichtet, wie sie eine tiefe Zuneigung zu Philip Boyes faßte und sich lange seinen Überredungsversuchen widersetzte, mit ihm in irregulärer Weise zusammenzuleben. Es gab ja auch wirklich keinen Grund, warum er sie nicht in allen Ehren hätte heiraten sollen; aber offenbar hat er sich ihr als einen Menschen hingestellt, der aus Gewissensgründen gegen jede formelle Bindung sei. Sie haben die Aussagen von Sybil Marriott und Eiluned Price gehört, wonach die Angeklagte sehr unglücklich über diese Einstellung gewesen sei, und Sie haben ebenfalls gehört, daß er ein sehr gutaussehender, attraktiver Mann war, dem vielleicht keine Frau so leicht widerstanden hätte.
    Jedenfalls hat die Angeklagte im März 1928, von seinem unaufhörlichen Drängen zermürbt, wie sie sagt, schließlich doch nachgegeben und in ein intimes Zusammenleben ohne eheliche Bande eingewilligt.
    Nun mögen Sie mit Recht der Meinung sein, daß dies sehr falsch von ihr war. Sie mögen diese junge Frau, selbst unter Berücksichtigung ihrer Schutzlosigkeit, als eine Person von fragwürdiger Moral ansehen. Sie werden sich nicht von dem falschen Glanz blenden lassen, mit dem gewisse Schriftsteller die ›freie Liebe‹ zu umgeben trachten, und Sie werden nichts anderes darin erblicken als ein gewöhnliches, schändliches Fehlverhalten. Sir Impey Biggs hat, was sein gutes Recht ist, seine große Beredsamkeit zugunsten der Angeklagten in die Waagschale zu werfen versucht und uns die Handlungsweise seiner Mandantin in den rosigsten Farben gemalt; er hat von selbstloser Hingabe und Selbstaufopferung gesprochen und Sie daran erinnert, daß in einer solchen Situation die Frau stets einen höheren Preis zu zahlen habe als der Mann. Ich bin sicher, Sie werden dem keine allzu große Beachtung schenken. Sie kennen sehr wohl den Unterschied zwischen Recht und Unrecht in solchen Dingen und werden finden, daß Harriet Vane, wenn sie nicht in gewissem Maße von den ungesunden Einflüssen, unter denen sie lebte, korrumpiert gewesen wäre, ein wahreres

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