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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Döhring
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zuging, ging es darum, so schnell wie möglich alle Sektflaschen in Position zu bringen und überall nur wenige Minuten vor zwölf zu öffnen. Dann war es so weit, es ertönten Gongschläge und die Sekunden wurden zurückgezählt. In diesem Moment standen wir in Reichweite der Gäste, ebenfalls mit einem vollen Sektglas in der Hand, um mit denen anzustoßen, die uns gern dabeihaben wollten. Es waren viele. So gingen wir dann erstmals an diesem Abend langsam und feierlich von Tisch zu Tisch, stießen an und nippten am Sektglas. Dann zogen wir uns für einen Moment ins Office hinter die Bar zurück und begrüßtendas neue Jahr mit den Kollegen. Ein paar Minuten Ruhe, kein Laufen, keine Bestellung, wir kamen langsam herunter und merkten zum ersten Mal an diesem Abend unsere Erschöpfung, das Brennen unserer Füße und wie gut der Sekt tat.
    Viele Stunden später, nachdem die letzten Gäste in den Neujahrsmorgen gegangen waren, begann für uns die Zeit zum Aufräumen und Abrechnen.
    Zum Schluss saßen wir rechnend und Geld zählend beieinander, ruhig jetzt und noch einmal ganz konzentriert. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen und wir genossen noch ein paar Minuten still, wie gut wir als Team funktionierten und wie sehr wir uns aufeinander verlassen konnten.
    * * *
    Die Tage werden merklich kürzer, es geht auf Weihnachten zu. Meine Aufregung über Gerrys Brief, den ich im Hochsommer erhalten hatte, ist verflogen. Nachdem sich der Schock gelegt und ich überstürzte Aktionen vermieden habe, beginne ich Recherchen im Internet zu machen, um herauszufinden, ob es dort schon Informationen über mich gibt und was vielleicht in den Illustrierten steht. Doch nichts deutet darauf hin, dass mein Fall schon öffentlich ist. Den Brief verwahre ich sorgsam und schweige darüber. Ab und zu frage ich mich, ob es das nun war und was Gerry damit für eine Absicht verfolgt hatte. Ich komme zu dem Ergebnis, dass er mich hatte erschrecken wollen und erinnern an etwas, das ich tief vergraben hatte. Ich sollte einfach noch einmal gründlich darüber nachdenken, folgere ich. Seine Wut war raus und ihren Weg zu mir gegangen und damit Schluss.
    Die Weihnachtspost reißt mich aus meinem Schlummer.
    Es ist eine Weihnachtskarte, auf der ein kleines Mädchen in winterlicher Umgebung eine rote Laterne in die Höhe hält, wie um die Dunkelheit des Winters aufzuhellen. Sie siehtfröhlich aus und ihre Miene lässt darauf schließen, dass sie etwas verkünden will.
    Ich brauche die Karte nicht erst umzudrehen. Die Darstellung des Mädchens mit der Lampe der Erleuchtung und dem mitteilsamen Gesichtsausdruck ist deutlich genug. „Meinem Stasispitzel einen Weihnachtsgruß“, lese ich. Anonym diesmal. Offen. Es ist niederschmetternd. Nach Monaten habe ich das Entsetzen über Gerrys Brief fast überwunden. Nun sind sie beide mit einem Schlag wieder da, meine mühsam in den Hintergrund geschobenen Begleiter: Scham und Furcht. Doch auch Ärger gesellt sich zu den beiden. Ja, ich habe etwas getan, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Was aber soll das hier werden? Bist du nicht Manns genug, anzurufen oder herzukommen, möchte ich herausschreien. Was soll das mit der offenen Karte? Geht es jetzt darum, dass die Nachbarn, die Postboten, die Familie es unbedingt erfahren müssen? Ich weiß es nicht und bin wieder niedergeschlagen. Doch fehlt es mir auch an Mut, ihn einfach selbst anzurufen oder zu ihm zu fahren und um eine Aussprache zu bitten. Könnte es denn funktionieren? Natürlich bereue ich es, und wie. Du hast recht, alter Freund, denke ich, und sehe sein fröhliches Gesicht aus längst vergangenen Tagen vor mir.
    Doch stattdessen trotte ich mit der Karte in der Hand ins Haus zurück, ziehe meine dicke Jacke aus und werfe sie nachlässig über einen Küchenstuhl. Dann gehe ich ins Wohnzimmer und lasse mich in einen Sessel fallen, schalte das Licht der Stehlampe ein, starre erst stumpfsinnig an die dunkelroten Wände, auf die alten Möbel und aus dem Fenster in den dunklen Garten hinaus. Dann sehe ich in die Vergangenheit.
    * * *
    Nachdem meine Lehre beendet war, zog es mich nach Berlin. Dies war die aufregendste Adresse, die dieses Land zu bietenhatte, also bewarb ich mich im damals gerade erst eröffneten Palast der Republik. Kurz nach dem Vorstellungsgespräch, das im alten preußischen Marstall stattfand, in dem die Büroräume des Palastes untergebracht waren, erhielt ich auch schon die Absage. Der Grund war, wie erwartet, meine Oma. Nachdem

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