STASIRATTE
Meine Füße rutschen auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Die Straße führt direkt ins Meer. Grau und uferlos rollen die Wellen auf mich zu. Das Wasser verändert seine Farbe von Hellgrau in Violett und vereint sich allmählich mit dem Abendhimmel. Der Wind rauscht und treibt es vor sich her. Jetzt werden die Straßenlaternen von den trüben Wellen umspült und nacheinander kippen sie elegant wie mit einer letzten Verbeugung in den Abgrund. Am Horizont erscheint ein Schwarm Tauben, die weiße Blätter in den Schnäbeln tragen. Es erscheint mir ganz alltäglich, dass die Vögel mir Worte zurufen, wobei ihnen die Zettel aus den Schnäbeln fallen. Doch ich verstehe ihre Sprache nicht.
Dann dreht der Schwarm ab und verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist. Ich versuche, einen der Papierfetzen aus dem seichten Wasser herauszufischen. Doch ich komme nicht vorwärts auf dem glitschigen Untergrund. Das Meer zieht sich langsam wieder zurück und nimmt alle Nachrichten mit. Ich will hinterherlaufen, doch es gelingt mir einfach nicht, so sehr ich mich auch gegen den Wind stemme, der meine Haare zerzaust. Regen klatscht mir ins Gesicht und ich wache auf.
Einen Moment lang liege ich flach auf dem Rücken zwischen Traum und Wirklichkeit und starre ins Leere. Es ist 4:40 Uhr. Noch sechs Stunden und zwanzig Minuten.
Es regnet kräftig. Ich stehe auf und schließe das Fenster. Im Haus ist es dunkel, meine Familie schläft. Durch das Fenster kann ich im Licht der Straßenlaterne sehen, wie sich die Zweige der Erle unter den Wassertropfen biegen. Mir fällt der Taubenschwarm ein und ich schüttele den Kopf.
Als der Wecker später klingelt, stelle ich fest, dass ich noch ein paar Stunden geschlafen haben muss. Ohne Tauben, ohne Meer, und ich stehe entschlossen auf. Doch die gewohnten Handgriffe sind keine wirkliche Ablenkung, sodass die ängstliche Erwartung wieder Oberwasser bekommt. Dieses Zupfender Aufregung in den Händen, den Beinen, da ist es wieder und zieht mich abwärts. Und in meinem Kopf läuft ein Film, der in einer Endlosschleife zeigt, wie es sich abspielen könnte, könnte, könnte.
Im Spiegel sehe ich eine Frau Mitte vierzig, dunkle Haare, grüne Augen. Sie kann mir nicht sagen, was der Tag bringen wird. Also kehrt sie zurück zur Routine. Kaltes Wasser, Fön, Make-up. Mechanisch ziehe ich mir einen Lidstrich, tusche die Wimpern, lege etwas Rouge auf und bin für ein paar Minuten abgelenkt. Und immerhin, wenn ich heute Abend die ganze Schminke herunterwasche, wird alles vorbei sein.
* * *
Nach langwierigem Herumkramen im Kleiderschrank entschließe ich mich für den dunkelblauen Hosenanzug. Was das Frühstück angeht, spüre ich deutlich, dass neben dem Adrenalin nur noch wenig Platz für anderes sein wird.
Ich gehe in die Küche, koche Wasser für den Tee und lege zwei Bananen auf den Tisch, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass sie auch bei minimalstem Appetit runterrutschen und eine Weile satt machen. Dann setze ich mich an den großen Holztisch, der für mindestens sechs Personen ausreicht, und betrachte meine Umgebung. Alles sieht aus wie seit Jahren. Die großen Küchenschränke aus der Gründerzeit wirken mit ihren mehr als hundert Dienstjahren solide und verlässlich. Passend zu ihrem hellen Braun stehen sie vor blau tapezierten Wänden. Den Eindruck der vorletzten Jahrhundertwende stören nur die Elektrogeräte, die sich weiß und funktionell vom bejahrten Holz absetzen. Das Radio erscheint mir zu laut, ich stehe auf, um es leiser zu drehen.
Mike kommt mir entgegen. Als mein Anwalt trägt er einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte. Wir werden die Sache gemeinsam durchstehen, geht es mirdurch den Kopf, und wie wenig selbstverständlich dies doch ist.
Er scheint meine Gedanken zu erraten und sagt: „Nimm das alles nicht so schwer. Glaub mir, der Richter wird sich nicht lange damit aufhalten. Denk einfach daran, wie es weitergegangen wäre, hätten wir nicht endlich etwas unternommen. Die Dinge müssen sich entwickeln und wir gehen jetzt den nächsten Schritt.“
„Ja“, antworte ich etwas matt und denke darüber nach, dass es längst nicht sicher ist, ob das Gericht in meinem Sinne entscheiden wird. Das und die weiteren Begleitumstände des bevorstehenden Termins machen mich nervös. Ich stehe auf, weil mich jetzt ein Beitrag im Radio interessiert, und drehe es wieder lauter. Doch auch die freundliche Stimme des Moderators lenkt mich nur kurz ab. Also dränge ich
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