Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
wurden und die Leiche des falschen Demetrius blutig lag; und gerade hier, wo das Zarentum aus dem engen Ring einer Stadt, aus dem jämmerlichen Kreis einer Binnenherrschaft sich auswuchs und entfaltete zum weitesten Reich, das jemals die Welt gekannt, – hier veranstaltet in beabsichtigter und wissender Symbolik die Sowjetregierung ihre Paraden und Aufzüge. Hier stand die Tribüne, wo Trotzki klirrenden Worts die Bauern und Soldaten aufrief zum Verzweiflungskampfe, hier liegen die Führer und Vorkämpfer des Bolschewismus und die Arbeiter, die für ihn gefallen, in den »Brüdergräbern« längs des Kremls, und hier ruht in eigenem Gebäude, dem Herzpunkt dieses Platzes, das Herz der russischen Revolution, die Leiche Lenins.
    Bei Tag brandet der Platz von Menschen und Wagen, man steht und kann sich nicht sattsehen an diesem glitzernden, mosaikhaften Bild der Kathedrale, der strengen Mauern des Kremls, sich nicht entziehen der erschütternd eindringlichen Gräberreihe, die hier mitten in der Stadt als Wahrzeichen des Dankes und des Sieges großartig hingestellt ist. Während man in Wien und Berlin zu den Gräbern der Märzgefallenen stundenweit hinauspilgern muß und in Paris vergebens die Grabplätze der Volksführer sucht, sind hier und ebenso in Leningrad statt irgendeines steinernen Baues oder pathetischer Denkmäler die Gräber selbst in die Stadt gestellt: der wuchtigste, großartigste Aufruf und Dank, den man sich erdenken kann. Wie vordem die Basilika und Kathedrale, bilden sie nun das eigentliche religiöse Zentrum der Stadt, aber frei aufgeschlagen unter dem Himmel, ohne jedes Pathos und jeden Prunk. Dieser geniale Sinn für Regie waltet überall in der neuen russischen Revolution. Zwanghaft muß man im Foyer eines Theaters, in jedem Bahnhofe, in jeder Wartehalle in Plastik oder Photographie das eiserne Antlitz Lenins in sich einfühlen; Lenin, wie er spricht, vorstoßend die Hand wie das Wort, zusammengeballte Energie, oder präsidierend in einer entscheidenden Sitzung, oder im schlichten Rock mit der Bauernkappe, heiter und lachend unter den Helfern. Überall, an jeder Stelle und jedem Ort, durch den roten Stab des Polizisten, durch die rote Mütze der Tramwaykondukteure, durch das überall eingemeißelte Zeichen der Sichel wird man erinnert an die neue Zeit, aber nirgends großartiger und überwältigender als an diesem Platze. Denn selbst wenn die Schatten alle Konturen verwischen, das Grab Lenins nur wie ein schwarzer Stein in dem ungeheuren leeren Dunkel einer Septembernacht steht, dann sieht man noch hoch oben auf der einstigen Residenz der Zaren hell und glühend die rote Fahne des Sowjet sich bauschen. Mit einem genialen Kunstgriff ist von unten her dieser purpurn wogende Stoff bestrahlt, so daß man inmitten des ungeheuren Nachtdunkels nur die rote Flamme sieht, diese rote Flamme, die leuchtet, hoch über dem leeren Platz, die Gräber, die Burgen und Handelshallen und weithin über Moskau und die ganze russische Welt, – ein Regieeinfall scheinbar nur, aber gleichzeitig mehr: ein Fanal in die neue Zeit, ein grandios ersonnenes Symbol.

Das alte und neue Heiligtum
    V ierzig Schritte sind sie voneinander entfernt, das alte und das neue Heiligtum Moskaus, das Heiligenbild der iberischen Muttergottes und das Grabmal Lenins. Das alte, rauchgeschwärzte Heiligenbild steht unbekümmert wie seit unzähligen Jahren in einer kleinen Kapelle zwischen den beiden Durchgängen des Tores, das zum Roten Platz führt. Unnennbare Scharen pilgerten früher hierher, um einige Minuten andachtsvoll sich vor dem Bildnis hinzuwerfen, ein paar fromme Kerzen anzustecken, ein Gebet zur Wundertätigen zu sprechen. Nun steht nebenan die warnende Inschrift der neuen Regierung: »Religion ist Opium fürs Volk«. Aber doch ist das alte Volksheiligtum unverletzt geblieben, der Zugang jedermann gestattet, und tatsächlich sieht man auch immer einige alte Weiblein auf den Steinen knien oder im Gebet ausgestreckt, – die letzten, die noch alten Herzens und alter Gesinnung der Wundertätigen anhängen.
    Einige, aber nicht viele, denn die wahre Menge, die wirkliche Masse pilgert zum neu aufgerichteten Heiligtum, dem Grabmal Lenins. In sechs- oder siebenfach gewundener Schlange stehen die Menschen, Bauern, Soldaten, Volksfrauen, Dorfweiber, ihre Kinder auf dem Arm, Kaufleute, Matrosen, – ein ganzes Volk, hergekommen aus der unendlichen russischen Welt, das seinen vom Schicksal gefällten Führer im künstlichen Schein des Lebens

Weitere Kostenlose Bücher