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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Wie einen Gruß Gottes saugt er mit aufgetaner Lunge die Luft und mit grauen gierigen Augen das Licht: wunderbar, man lebt noch, man ist gesund. Dankbar steht er auf, der alte Mann, macht sich nackt, der Guß eiskalten Wassers rötet gut den wohlerhaltenen Leib. Mit turnerischer Lust beugt er, bis die Lunge stöhnt und die Gelenke knacken, den Oberkörper auf und nieder. Dann zieht er Hemd und Hausrock um die rotgescheuerte Haut, stößt die Fenster auf und fegt eigenhändig die Stube, wirft die krachenden Holzscheite ins flink aufprasselnde Feuer, sein eigener Diener, sein eigener Knecht.
    Dann hinab in die Frühstücksstube. Sophia Andrejewna, die Töchter, der Sekretär, ein paar Freunde sind schon zur Stelle, im Samowar brodelt der Tee. Auf einem hohen Tablett bringt der Sekretär ihm den bunten Wust von Briefen, Zeitschriften, Büchern entgegen, bespickt mit Frankaturen aus vier Erdteilen. Mißmutig blickt Tolstoi auf den papiernen Turm. »Weihrauch und Belästigung«, denkt er im stillen; »Verwirrung jedenfalls! Man sollte mehr allein sein mit sich selbst und mit Gott, nicht immer Nabel des Weltalls spielen, sich all das fernhalten, was stört, verwirrt, was eitel, hoffärtig, ruhmsüchtig und unwahr macht. Besser, man schaufelte all das in den Ofen, um sich nicht zu verzetteln, nicht sich die Seele mit Hochmut zu verstören.« Aber die Neugier ist mächtiger, er durchblättert doch die gehäufte, wirre Vielfältigkeit von Bitten, Anklagen, Betteleien, geschäftlichen Anträgen, Besuchsankündigungen und loser Schwätzerei mit raschen knisternden Fingern. Ein Brahmane schreibt aus Indien, er hätte Buddha falsch verstanden, ein Verbrecher aus dem Zuchthaus erzählt seine Lebensgeschichte und will Rat, junge Menschen wenden sich an ihn in ihrer Verwirrung, Bettler in ihrer Verzweiflung, alle drängen sie demütig zu ihm, wie sie sagen, als dem einzigen, der ihnen helfen könnte, an das Gewissen der Welt. Die Runzeln auf der Stirn schneiden sich tiefer: »Wem kann ich helfen«, denkt er, »ich, der mir selbst nicht zu helfen weiß; von einem Tage zum andern gehe ich irre und suche mir neuen Sinn, um dieses unergründliche Leben zu ertragen, und rede großspurig von der Wahrheit, um mich zu täuschen. Was Wunder, daß sie da alle kommen und schreien: Leo Nikolajewitsch, lehre du uns das Leben! Lüge ist, was ich tue, Großtuerei und Gaukelspiel, in Wahrheit bin ich längst ausgeschöpft, weil ich mich verschwende, weil ich mich fortgieße an alle die tausend und aber tausend Menschen, statt mich in mir selber zu sammeln, weil ich rede und rede und rede, statt mich auszuschweigen und mein innerstes wahrstes Wort in der Stille zu hören. Aber ich darf die Menschen in ihrem Vertrauen nicht enttäuschen, ich muß ihnen antworten.« Einen Brief hält er länger und liest ihn zweimal, dreimal: den eines Studenten, der ihn ingrimmig schmäht, daß er Wasser predige und Wein trinke. Es sei Zeit, daß er endlich sein Haus verlasse, sein Eigentum an die Bauern gebe und Pilgrim werde auf den Straßen Gottes. »Er hat recht«, denkt Tolstoi, »er spricht mein Gewissen. Aber, wie ihm erklären, was ich mir selber nicht erklären kann, wie mich verteidigen, da er mich anklagt in meinem eigenen Namen?« Diesen einen Brief nimmt er mit sich, um ihn gleich zu beantworten, nun er aufsteht, in sein Arbeitszimmer zu gehen. An der Tür kommt der Sekretär noch nach und erinnert, zu Mittag habe sich der Korrespondent der »Times« angesagt für ein Interview: ob er ihn empfangen wolle. Tolstois Gesicht verfinstert sich. »Immer diese Zudringlichkeit! Was wollen sie denn von mir: nur in mein Leben gaffen. Was ich sage, steht in meinen Schriften; jeder, der lesen kann, vermag sie zu verstehen.« Aber irgendeine eitle Schwäche gibt doch rasch nach. »Meinetwegen«, sagt er, »aber nur für eine halbe Stunde.« Und kaum, daß er die Schwelle des Arbeitszimmers überschreitet, murrt schon das Gewissen: »Warum habe ich schon wieder nachgegeben; immer noch, mit grauen Haaren, eine Spanne vor dem Tode handle ich noch eitel und liefere mich aus an Menschengeschwätz, immer wieder werde ich schwach, wenn sie gegen mich andringen. Wann werde ich endlich lernen, mich zu verbergen, mich zu verschweigen! Hilf mir, Gott, hilf mir doch!«
    Endlich allein mit sich im Arbeitszimmer. An den nackten Wänden hängen Sense, Rechen und Beil, auf dem gebohnten Grund steht fest, mehr Klotz als Ruhestatt, ein schwerer Sessel vor dem plumpen Tisch; eine

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