Stefan Zweig - Gesammelte Werke
sich allein häuft er derart vor der Öffentlichkeit allen Anschein der Lauheit und Halbschlächtigkeit. Er weiß, jeder Bube darf nun seiner spotten, jeder Aufrichtige ihn bezweifeln, jeder seiner Anhänger ihn richten, aber dies und gerade dies wird nun Tolstois großartige Dulderart in all diesen dunklen Jahren, daß er mit hartverschlossenen Lippen die Beschuldigung der Zweideutigkeit hinnimmt, ohne sich jemals zu entschuldigen. »Möge meine Lage vor den Menschen falsch sein, vielleicht ist gerade das nötig«, schreibt er 1898 erschüttert in sein Tagebuch, und langsam beginnt er den besonderen Sinn seiner Prüfung zu erkennen, nämlich, daß dieses sein Märtyrertum ohne Triumph, dieses Unrechtleiden ohne Gegenwehr und Entschuldigung für ihn längst ein grimmigeres und gewichtigeres geworden ist, als ein Märtyrertum am Markte, jenes andere theatralische, gewesen wäre, das er vom Schicksal jahrelang ersehnt. »Ich wünschte oft, zu leiden und Verfolgung zu erdulden, aber das bedeutet, daß ich faul war und andere für mich arbeiten lassen wollte, dadurch daß sie mich quälen, während ich bloß zu leiden hätte.« Der ungeduldigste aller Menschen, der gern mit einem Ruck in die Qual hineingesprungen wäre und in überschwenglicher Büßerlust sich hätte verbrennen lassen am Opferpfahl seiner Überzeugung, erkennt, daß ihm als viel härtere Prüfung das Brennen am langsam schwelenden Feuer auferlegt ist: die Mißachtung der Uneingeweihten und die ewige Unruhe des eigenen wissenden Gewissens. Denn welch unaufhörliche Gewissensfolter für einen so wachen und unbelügbaren Selbstbeobachter, sich täglich neu eingestehen zu müssen, daß er, der irdische Mensch Leo Tolstoi, in seinem eigenen Haus und Leben nicht imstande ist, die ethischen Forderungen zu erfüllen, die der Apostel Leo Tolstoi an eine Millionenmenschheit stellt, und daß er trotzdem, seines eigenen Versagens bewußt, nicht innehält, weiter und weiter diese Lehre zu predigen! Daß er, der längst sich selbst nicht mehr glaubt, von den andern immer noch Gläubigkeit und Zustimmung fordert! Hier schwärt die Wunde, die eitrige Stelle in Tolstois Gewissen. Er weiß, daß die Mission, die er auf sich genommen, längst eine Rolle geworden ist, ein Schauspielstück der Demut, unablässig der Welt neu vorgespielt; sich selbst hat Tolstoi nie belogen, und eben daß er um seine Halbschlächtigkeiten und Posen genauer wußte als selbst seine erbittertsten Feinde, gerade das hat sein Leben zu einer intimen Tragödie gemacht. Wer wissen oder nur ahnen will, bis zu welchem Maße des Selbstekels und der Selbstzerschmetterung diese gequälte, und wahrheitswütige Seele sich gepeinigt hat, der lese jene Novelle, die man erst im Nachlaß gefunden hat, den »Vater Sergius«. Genau wie die heilige Therese, von ihren Visionen erschreckt, ihren Beichtvater ängstlich fragt, ob diese Verkündigungen wirklich von Gott und nicht vielleicht von seinem Widerpart, dem Teufel, ihr zugesandt seien, um ihren Hochmut herauszufordern, so fragt sich Tolstoi in jener Novelle, ob sein Lehren und Tun vor den Menschen wirklich göttlichen, also ethischen und hilfreichen Ursprungs sei oder nicht vom Teufel der Eitelkeit stamme, von Ruhmsucht und Freude am Weihrauch. In sehr durchsichtiger Verhüllung schildert er in jenem Heiligen seine eigne Situation in Jasnaja Poljana: wie zu ihm selbst die Gläubigen, die Neugierigen, die Pilger der Bewunderung, wandern zu jenem wundertätigen Mönch Hunderte Büßer und Verehrer. Aber gleich Tolstoi selbst fragt sich inmitten des Tumults seiner Anhänger, dieser Doppelgänger seines Gewissens, ob er, den alle als Heiligen verehren, tatsächlich heiligen Herzens lebe; er fragt sich: »In welchem Maße geschieht, was ich tue, Gott zuliebe und inwieweit nur um der Menschen willen?« Und zerschmetternd antwortet Tolstoi sich selbst durch Vater Sergius:
»Er fühlte in der Tiefe seiner Seele, daß der Teufel sein Wirken um Gottes willen durch ein anderes, nur auf den Ruhm bei den Menschen abgesehenes, vertauscht hatte. Er fühlte das; denn wie es ihm früher wohlgetan hatte, wenn man ihn nicht aus seiner Einsamkeit aufstörte, so war ihm jetzt diese Einsamkeit eine Qual. Er fühlte sich durch die Besucher belästigt, sie machten ihn müde, doch in seinem innersten Herzen freute er sich über sie, freute sich über die Lobpreisungen, mit denen sie ihn überhäuften. Es blieb ihm immer weniger Zeit zu seelischer Stärkung und Gebet, mitunter dachte
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