Stefan Zweig - Gesammelte Werke
er, er sei einem Platze ähnlich, an dem eine Quelle gesprudelt hatte, eine schwache Quelle lebendigen Wassers, die aus ihm und durch ihn strömte; jetzt aber kann sich das Wasser nicht mehr ansammeln, wenn die Dürstenden herandrängen und einander stoßen, und sie haben alles zerstampft, es ist nur Schmutz übriggeblieben… Es war jetzt keine Liebe mehr in ihm, keine Demut und auch keine Reinheit.«
Kann man furchtbarere Verurteilung sich erdenken als diese schneidende Selbstzurückweisung, die jede mögliche Vergötterung für immer erledigen soll? Mit diesem Bekenntnis zertrümmert Tolstoi für immer das für Lesebücher schon gestanzte Klischee des heiligen Mannes von Jasnaja Poljana; wie erschüttert zeigt sich das zerfleischte Gewissen eines brüchigen, unsicheren Menschen, der unter der Last seiner selbst aufgeladenen Verantwortung zusammenbricht, statt der Aureole des Heiligen. Die Bewunderung einer Welt, die scharwenzelnde Verhimmelung seiner Jünger, die Pilgerzüge jedes einzelnen Tags, all diese lärmenden und berauschenden Zustimmungen vermochten diesen mißtrauischen Geist, dieses unbestechliche Gewissen darüber nicht zu täuschen, wieviel Theatralisches in diesem literarisch aufgezogenen Christentum, wieviel Ruhmsucht in den eigenen Demütigungen versteckt war. Doch unersättlich in seiner Grausamkeit gegen sich selbst, bezweifelt in dieser symbolischen Autopsie Tolstoi die Ehrlichkeit sogar seines ersten Willens. Ganz ängstlich fragt er weiter durch seines Doppelgängers Mund: »Aber war nicht wenigstens eine ehrliche Absicht, Gott zu dienen, vorhanden?« Doch abermals schlägt die Antwort alle Pforten der Heiligkeit zu. »Ja, sie war vorhanden, aber alles ist beschmutzt und von Ruhm überwuchert. Es gibt keinen Gott für einen, der so gelebt hat wie ich um des Ruhmes vor den Menschen willen.« Er hat den Glauben vertan durch zu viel Reden und Tragieren der Gläubigkeit. Die Theaterpose vor der versammelten Literatur Europas, die pathetischen Gemeindebeichten statt einer schweigenden Demut, dies hat, so fühlt und bekennt hellseherisch Tolstoi, ihm seine vollkommene Heiligung unmöglich gemacht. Erst wenn er der Welt, dem Ruhm, der Eitelkeit entsagt, wird Vater Sergius, sein Gewissensbruder, sich seinem Gotte nähern; und es ist sein Wort, wenn er ihn sehnsüchtig am Ende seiner Irrfahrten sagen läßt: »Ich will ihn suchen.«
»Ich will ihn suchen« – nur dies Wort enthält Tolstois wahrsten Willen –, sein wirkliches Schicksal: kein Gottfinder zu sein, nur Gottsucher. Er ist kein Heiliger gewesen, kein welterlösender Prophet, nicht einmal ein vollkommen eindeutig ehrlicher Gestalter seines Lebens: er ist immer Mensch geblieben, großartig in manchen Augenblicken und in den nächsten wieder unwahrhaftig und eitel. Ein Mensch mit Schwächen, Unzulänglichkeiten und Zweideutigkeiten, aber immer dieser Fehler tragisch bewußt und mit einer Leidenschaftlichkeit ohnegleichen um Vollendung bemüht. Kein Heiliger, aber ein heiliger Wille, kein Gläubiger, aber eine titanische Glaubenskraft, Bildnis nicht des Göttlichen, das still gefaßt und beendet in sich ruht, sondern Symbol einer Menschheit, die nie befriedigt rasten darf auf ihrem Wege, sondern unablässig ringen muß um reinere Gestaltung, jede Stunde und jeden Tag.
Ein Tag aus dem Leben Tolstois
In der Familie ist mir traurig zumute, weil ich die Empfindungen meiner Angehörigen nicht teilen kann. Alles, was sie freut, die Schulprüfungen, der Erfolg in der Welt, die Einkäufe, alles das halte ich für ein Unglück und Übel für sie selbst, darf es aber nicht sagen. Ich darf es ja freilich und tue es auch, aber meine Worte werden von niemandem erfaßt.
Tagebuch
S o bilde ich mir dank der Zeugnisse seiner Freunde und nach seinem eigenen Wort aus tausend einen einzigen Tag Leo Tolstois.
Frühmorgens: Der Schlaf fließt langsam ab von den Lidern des alten Mannes, er erwacht, sieht sich um – Morgenlicht färbt schon die Fenster, es wird Tag. Aus dunkler Verschattung taucht das Denken empor und als erstes Gefühl, das erstaunt beglückte: Ich lebe noch. Gestern abend, wie allnachts, hat er sich hingestreckt auf sein Bett, mit der demütigen Ergebung, sich nicht wieder zu erheben. Bei der flackernden Lampe hat er noch in sein Tagebuch vor das Datum des werdenden Tages die drei Buchstaben geschrieben: W. i. l., »Wenn ich lebe«, und wunderbar, noch einmal ist ihm die Gnade des Daseins geschenkt, er lebt, atmet noch, er ist gesund.
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