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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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meine Gedanken teilen sollte wie mein Bett und mein Leben, sie steht als Feind gegen meine Gedanken. Ein Mühlstein ist sie an meinem Hals, eine Gewissenslast, die mich hinabzieht in ein falsches, verlogenes Leben; längst sollte ich die Stricke zerschneiden, mit denen sie mich binden. Was habe ich noch mit ihnen zu tun? Sie stören mich in meinem Leben, und ich störe sie in dem ihren. Überflüssig bin ich hier, eine Last für mich und sie alle.«
    Unwillkürlich feindselig hebt er den Blick aus seinem Zorn und sieht sie an, Sophia Andrejewna, seine Frau. Mein Gott, wie ist sie alt geworden und grau, auch ihr queren Falten die Stirn, auch ihr zerreißt Gram den verfallenen Mund. Und eine weiche Welle überflutet plötzlich des alten Mannes Herz. »Mein Gott«, denkt er, »wie sieht sie düster, wie sieht sie traurig aus, sie, die ich als junges, lachendes, unschuldiges Mädchen in mein Leben nahm. Ein Menschenalter, vierzig, fünfundvierzig Jahre leben wir nun zusammen, als ein Mädchen habe ich sie genommen, ich schon halb verbrauchter Mann, und sie hat mir dreizehn Kinder geboren. Meine Werke hat sie schaffen helfen, meine Kinder gesäugt, und ich, was habe ich aus ihr gemacht? Eine verzweifelte, fast wahnsinnige, überreizte Frau, der man die Schlafmittel versperren muß, damit sie nicht ihr Leben wegwirft, so unglücklich wurde sie durch mich. Und da, meine Söhne, ich weiß, sie mögen mich nicht, und da, meine Töchter, denen zehre ich die Jugend weg, und da, die Sekretäre, die jedes Wort aufschreiben und jedes meiner Worte aufpicken wie Spatzen den Pferdemist; schon haben sie den Balsam und Weihrauch im Kasten bereit, um meine Mumie für das Museum der Menschheit zu erhalten. Und dort dieser englische Laffe wartet schon mit dem Notizbuch, wie ich ihm ›das Leben‹ erklären werde – eine Sünde gegen Gott und gegen die Wahrheit ist dieser Tisch, dieses Haus, gräßlich geheimnislos und ohne Reinheit, und ich Lügner sitze behaglich in dieser Hölle und fühle mich warm und wohl, statt aufzuspringen und meinen Weg zu gehen. Es wäre besser für mich, es wäre besser für sie, wenn ich schon tot wäre: ich lebe zu lange und nicht wahr genug: längst ist meine Zeit schon gekommen.«
    Wieder bietet ihm der Lakai einen Gang, süße Früchte, mit Milchschaum umrundet, in Eis gekühlt. Mit zorniger Handbewegung schiebt er die Silberschüssel zur Seite. »Ist das Essen nicht gut?« fragt ängstlich Sophia Andrejewna, »ist es zu schwer für dich?«
    Aber Tolstoi antwortet nur bitter: »Das ist ja für mich das Schwere, daß es so gut ist.«
    Die Söhne blicken verdrossen, die Frau befremdet, der Reporter angestrengt: man sieht, er will das Aphorisma behalten.
    Endlich ist das Essen zu Ende, sie stehen auf und gehen in den Empfangsraum. Tolstoi debattiert mit dem jungen Revolutionär, der trotz aller Ehrfurcht ihm kühn und lebendig widerspricht. Tolstois Auge blitzt auf, er spricht wild, stoßhaft, beinahe schreiend; noch packt ihn jede Diskussion, wie früher die Jagd und das Tennisspiel, mit unbändiger Leidenschaft. Mit einem Mal ertappt er sich in seiner Wildheit, zwingt sich zur Demut, dämpft gewaltsam die Stimme: »Aber vielleicht irre ich mich, Gott hat seine Gedanken unter die Menschen verstreut, und niemand weiß, ob es die seinen oder die eigenen sind, die er ausspricht.« Und um abzulenken, muntert er die anderen auf: »Gehen wir ein wenig in den Park.«
    Aber zuvor noch ein kleiner Halt. Unter der uralten Ulme, gegenüber der Schloßtreppe, an dem »Baum der Armen«, warten die Besucher aus dem Volk, die Bettler und Sektierer, die »Finsteren« auf Tolstoi. Zwanzig Meilen sind sie hergepilgert, Rat zu holen oder etwas Geld. Sonnverbrannt, müde, mit verstaubten Schuhen stehen sie da. Wie der »Herr«, der »Barin«, nun naht, beugen sich einige russisch bis zur Erde. Mit raschem, wehendem Schritt tritt Tolstoi auf sie zu. »Habt ihr Fragen?« »Ich wollte fragen, Erlaucht…« »Ich bin nicht erlaucht, niemand ist erlaucht als Gott«, fährt Tolstoi ihn an. Das Bäuerlein dreht erschrocken die Mütze, endlich haspelt es umständliche Fragen heraus, ob wirklich die Erde nun den Bauern gehören sollte, und wann er sein Stück Feld für sich bekommen werde? Tolstoi antwortet ungeduldig, alles Unklare erbittert ihn. Dann kommt ein Förster an die Reihe mit allerhand Gottesfragen. Ob er lesen könne, fragt ihn Tolstoi, und als er bejaht, läßt er die Schrift »Was sollen wir tun?« holen und

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