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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Elementare, die kosmische Macht, das Existenzgefühl. Wo immer man tiefer sich eingräbt ins Werk Dostojewskis, überall rauscht als unterste Quelle dieser ganz primitive, fast vegetative fanatische Lebensdrang, jenes ganz urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die schon Einzelformen des Lebens sind, Wertungen, Unterscheidungen, sondern die ganz einheitliche Lust, wie man sie beim Atmen fühlt. Vom Urquell wollen sie trinken, nicht aus den Brunnen der Städte und Straßen, die Ewigkeit, die Unendlichkeit in sich fühlen und die Zeitlichkeit abtun. Sie kennen nur eine ewige, keine soziale Welt. Sie wollen das Leben weder erlernen noch bezwingen, gleichsam nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als Ekstase der Existenz.
    Weltfremd aus Weltliebe, unwirklich aus Leidenschaft zur Wirklichkeit, muten Dostojewskis Gestalten vorerst etwas einfältig an. Sie haben keine Richtung geradeaus, kein sichtbares Ziel: wie Blinde taumeln und tappen diese doch erwachsenen Menschen in der Welt herum oder wie Trunkene. Sie bleiben stehen, sehen sich um, fragen alle Fragen und rennen ohne Antwort weiter ins Unbekannte: ganz frisch scheinen sie in unsere Welt eingetreten und ihr noch nicht eingewöhnt. Und man versteht diese Menschen Dostojewskis kaum, bedenkt man nicht, daß sie Russen sind, Kinder eines Volkes, das aus einer jahrtausendalten barbarischen Unbewußtheit mitten in unsere europäische Kultur hineingestürzt ist. Von der alten Kultur, vom Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch nicht vertraut, stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und die Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes. Wir Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in einem warmen Haus. Der Russe des neunzehnten Jahrhunderts, der Dostojewski-Zeit, hat hinter sich die Holzhütte der barbarischen Vorzeit verbrannt, aber sein neues Haus noch nicht gebaut. Entwurzelte, Richtungslose sind sie alle. Sie haben die Kraft ihrer Jugend, die Kraft der Barbaren noch in den Fäusten, aber der Instinkt ist verwirrt von der Tausendfalt der Probleme: die Hände voll Stärke, wissen sie nicht, was zuerst anfassen. Und so greifen sie nach allem und haben nie genug. Man fühle hier die Tragik jedes einzelnen Dostojewski-Menschen, jedes einzelnen Zwiespalt und Hemmung aus dem Schicksal des ganzen Volkes. Dieses Rußland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weiß nicht, wohin: nach Westen oder nach Osten, nach Europa oder nach Asien, nach Petersburg, der »künstlichen Stadt«, in die Kultur oder zurück auf das Bauerngut, in die Steppe. Turgenjeff stößt sie nach vorne, Tolstoi stößt sie zurück. Alles ist Unruhe. Der Zarismus steht unvermittelt gegenüber einer kommunistischen Anarchie, die Rechtgläubigkeit, die altererbte, springt quer über in einen fanatischen und rasenden Atheismus. Nichts steht fest, nichts hat seinen Wert, sein Maß in dieser Zeit: die Sterne des Glaubens brennen nicht mehr über ihren Häuptern und das Gesetz längst nicht mehr in ihrer Brust. Entwurzelte einer großen Tradition, sind die Dostojewski-Menschen echte Russen, Übergangsmenschen, das Chaos des Anfangs im Herzen, beladen mit Hemmungen und Ungewißheiten. Keine Frage ist für sie beantwortet, kein Weg geebnet. Menschen des Übergangs, Menschen des Anfangs sind sie alle. Jeder ein Cortes: hinter sich verbrannte Schiffe, vor sich das Unbekannte.
    Aber dies ist das Wunderbare: daß, weil sie Menschen eines Anfangs sind, in jedem einzelnen noch einmal die Welt beginnt. Daß alle Fragen, die bei uns schon zu kalten Begriffen erstarrt sind, ihnen noch im Blute glühen. Daß unsere bequemen, ausgetretenen Wege mit ihren moralischen Geländern und ethischen Wegweisern ihnen nicht bekannt sind: immer und überall gehen sie durchs Dickicht ins Grenzenlose, ins Unendliche hinein. Jeder einzelne fühlt so wie das Rußland Lenins und Trotzkis, daß er die ganze Weltordnung neu aufbauen müsse, und das ist der unbeschreibliche Wert des russischen Menschen für Europa, daß hier eine unverbrauchte Neugier noch einmal alle Fragen des Lebens an die Unendlichkeit stellt. Daß, wo wir träge wurden in unserer Bildung, andere noch glühend sind. Jeder einzelne revidiert bei Dostojewski noch einmal alle Probleme, rückt sich selbst mit blutenden Händen die Grenzsteine von Gut und Böse, jeder einzelne schafft sich sein Chaos wieder um zur Welt. Jeder einzelne ist bei ihm Diener, Verkünder des neuen Christus, Märtyrer und Verkünder eines dritten

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