Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Rogoschin, wie ein Tier sich wälzend vor dem verschlossenen Gemach seiner Frau, der ehrliche Dieb, sterbend im schmutzigen Bette – welche Unterwelt des Gefühls, welcher Hades der Leidenschaften! O welche tragische Menschheit, welch russischer, grauer, ewig dämmernder, niederer Himmel über diesen Gestalten, welche Dunkelheiten des Herzens und der Landschaft! Gelände des Unglücks, Wüsten der Verzweiflung, Fegefeuer ohne Gnade und Gerechtigkeit.
O wie dunkel, wie verworren, wie fremd, wie feindlich ist sie zuerst, diese Menschheit, diese russische Welt! Von Leiden scheint sie überflutet, und diese Erde, wie Iwan Karamasow so grimmig sagt, »getränkt von Tränen bis zu ihrem innersten Kern«. Aber so wie Dostojewskis Antlitz dem ersten Blicke düster, lehmig, gedrückt, bäurisch und gebeugt anmutet, dann aber der Glanz seiner Stirne, aufstrahlend über die Versunkenheit, das Irdische seiner Züge, seine Tiefe durch Glauben erleuchtet, so durchstrahlt auch im Werke das geistige Licht die dumpfe Materie. Aus Leiden scheint Dostojewskis Welt einzig gestaltet. Und doch ist nur scheinbar die Summe alles Leidens in seinen Menschen größer als in jedem anderen Werke. Denn in ihnen wirkt etwas, das der Wollust, der Lust am Glück, tiefsinnig die Wehlust, die Lust an der Qual, gegenüberstellt: ihr Leiden ist zugleich ihr Glücklichsein, sie halten es fest mit den Zähnen, wärmen es an ihrer Brust, sie schmeicheln es mit den Händen, sie lieben es mit ihrer ganzen Seele. Und sie wären nur dann die Unglücklichsten, liebten sie es nicht. Dieser Tausch, der rasende frenetische Tausch des Gefühls im Innern, diese ewige Umwertung des Dostojewskischen Menschen kann vielleicht nur ein Beispiel ganz klarmachen, und ich wähle eines, das in tausend Formen wiederkehrt: das Leid, das einem Menschen infolge einer Erniedrigung, einer tatsächlichen oder eingebildeten, widerfährt. Irgendeiner, ein schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein kleiner Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In seinem Stolz gekränkt durch ein Wort, eine Nichtigkeit vielleicht. Diese erste Kränkung ist der Primäreffekt, der den ganzen Organismus in Aufruhr bringt. Der Mensch leidet. Er ist gekränkt, liegt auf der Lauer, spannt sich an und wartet – auf eine neue Kränkung. Und die zweite Kränkung kommt: also eigentlich Häufung des Leidens. Aber seltsam, sie tut nicht mehr weh. Zwar der Gekränkte klagt, er schreit, aber seine Klage ist schon nicht mehr wahr: denn er liebt diese Kränkung. In diesem »Fortwährend-sich-seiner-Schmach-bewußt-Sein ist ein unnatürlicher heimlicher Genuß«. Für den beleidigten Stolz hat er einen neuen: den des Märtyrers. Und jetzt entsteht in ihm der Durst nach neuer Kränkung, nach mehr und mehr. Er beginnt zu provozieren, er übertreibt, er fordert heraus: das Leiden ist jetzt seine Sehnsucht, seine Gier, seine Lust: man hat ihn erniedrigt, so will er (der Mensch ohne Maß) ganz niedrig sein. Und er gibt es nicht her mehr, sein Leiden, mit verbissenen Zähnen hält er es fest: jetzt wird der Hilfreiche sein Feind, der Liebende. So schlägt die kleine Nelly dem Arzt dreimal das Pulver ins Gesicht, so stößt Raskolnikow Sonja zurück, so beißt Iljutschka den frommen Aljoscha in die Finger – aus Liebe, aus fanatischer Liebe zu ihrem Leiden. Und alle, alle lieben sie das Leiden, weil sie darin das Leben, das geliebte, so stark spüren, weil sie wissen, »man kann auf dieser Erde nur durch Leiden wahrhaft lieben«, und das wollen sie, das vor allem! Es ist ihr stärkster Existenzbeweis: statt des cogito, ergo sum, »ich denke, also bin ich«, setzen sie das: »ich leide, also bin ich«. Und dieses »Ich bin« ist bei Dostojewski und allen seinen Menschen der höchste Triumph des Lebens. Der Superlativ des Weltgefühls. Im Kerker jauchzt Dimitry die große Hymne an dieses »Ich bin«, an die Wollust des Seins, und eben um dieser Liebe zum Leben willen ist ihnen allen das Leiden notwendig. Nur scheinbar, sagte ich, ist darum die Summe des Leidens größer bei Dostojewski als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es eine Welt gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund noch ein Weg führt, aus jedem Unglück noch Ekstase, aus jeder Verzweiflung noch Hoffnung, so ist es die seine. Was ist dies Werk anderes als eine Reihe von modernen Apostelgeschichten, Legenden der Erlösung vom Leiden durch den Geist? Der Bekehrungen zum Lebensglauben, der Kalvariengänge zur Erkenntnis? Der
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