Stefan Zweig - Gesammelte Werke
das grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt. Denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit. Nie wollte er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags, einzig sich selbst noch konzentrierter, intensiver. Was Keim war in ihm, Keim des Guten und des Bösen, jede Leidenschaft, jedes Laster hat er aufgesteigert durch Begeisterung und Selbstekstase, nichts ausgerodet an Gefahr in seinem wissenden Blut. Restlos gibt sich der Spieler in ihm als Einsatz an das leidenschaftliche Spiel der Mächte, denn nur im Rollen von Schwarz und Rot, Tod oder Leben, spürt er taumlig-süß die ganze Wollust seiner Existenz. »Du hast mich hineingestellt, du wirst mich wieder hinausführen«, ist mit Goethe seine Antwort an die Natur. »Corriger la fortune«, das Schicksal zu verbessern, auszubiegen, abzuschwächen, fällt ihm nicht bei. Nie sucht er Vollendung, Abschluß, Ende in einer Ruhe, nur Steigerung des Lebens im Leiden, immer höher lizitiert er sein Gefühl zu neuen Spannungen, denn nicht sich will er gewinnen, sondern die höchste Summe des Gefühls. Er will nicht wie Goethe zum Kristall erstarren, kalt mit hundert Flächen das bewegte Chaos spiegelnd, sondern Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz. Er will nicht das Leben meistern, sondern das Leben fühlen. Nicht der Herr sein, sondern der fanatische Leibeigene seines Schicksals. Und nur so, als der »Gottesknecht«, der Hingehendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen werden.
Dostojewski hat die Herrschaft über sein Schicksal an das Schicksal zurückgegeben: dadurch wird sein Leben gewaltig über die zufällige Zeit. Er ist der dämonische Mensch, Untertan den ewigen Mächten, und in seiner Gestalt ersteht mitten im klaren dokumentarischen Licht unserer Epoche noch einmal der schon vergangen geglaubte Dichter mystischer Zeiten, der Seher, der große Rasende, der Schicksalsmensch. Etwas Urzeitliches und Heroisches liegt in dieser titanischen Gestalt. Steigen die anderen literarischen Werke wie beblümte Berge aus den Niederungen der Zeit, Zeugen einer gestaltenden Urkraft zwar noch, aber schon gesänftigt in Dauer und zugänglich selbst in ihren Höhen, so scheint die Kuppe seiner Schöpfung, phantastisch und grau, ein vulkanisches, unfruchtbares Gestein. Aber aus dem Krater seiner zerrissenen Brust reicht Glut bis zum untersten feurig-flüssigen Kern unserer Welt: hier sind noch Zusammenhänge mit aller Anfänge Anfang, mit dem Elementaren der Urkraft, und schaudernd spüren wir in seinem Schicksal und Werk die geheimnisvolle Tiefe aller Menschlichkeit.
Die Menschen Dostojewskis
O glaubet nicht an die Einheit des Menschen.
Dostojewski
V ulkanisch er selbst, vulkanisch darum seine Helden, denn jeder Mensch bezeugt im letzten nur den Gott, der ihn erschuf. Sie sind nicht friedlich eingeordnet in unsere Welt, überall reichen sie mit ihrem Empfinden bis zu den Urproblemen hinab. Der moderne Nervenmensch in ihnen ist gepaart dem Wesen des Anfangs, das nichts vom Leben weiß als seine Leidenschaft, und mit den letzten Erkenntnissen stammeln sie gleichzeitig die ersten Fragen der Welt. Ihre Formen sind noch nicht ausgekühlt, ihr Gestein nicht geschichtet, ihre Physiognomien nicht geglättet. Ewig unvollendet sind sie und darum doppelt lebendig. Denn der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der abgeschlossene, und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche hinaus. Ihm erscheinen Menschen nur insolange als Helden und künstlerisch gestaltungswert, als sie mit sich entzweit sind, problematische Naturen: die Vollendeten, die Ausgereiften schüttelt er von sich ab wie der Baum seine Frucht. Dostojewski liebt seine Menschen nur, solange sie leiden, solange sie die gesteigerte, zwiespältige Form seines eigenen Lebens haben, solange sie Chaos sind, das sich in Schicksal verwandeln will.
Stellen wir seine Helden vor ein anderes Bild, um sie in ihrer wundervollen Sonderheit besser zu verstehen. Vergleichen wir. Rufen wir einen Helden Balzacs als den Typus französischen Romans in uns auf, so entsteht unbewußt eine Vorstellung von Geradlinigkeit, Umgrenztheit und innerer Geschlossenheit. Ein Begriff, deutlich wie eine geometrische Figur und gesetzvoll wie sie. Alle Menschen Balzacs sind aus einer einzigen, durch die seelische Chemie genau bestimmbaren Substanz
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