Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Stepanowitsch, Rogoschin, Dimitri Karamasow vernichten ihr soziales Ich, den dunklen Raupenstand ihres inneren Wesens, um wie Schmetterlinge sich der abgestorbenen Form zu entschwingen, das Beflügelte aus dem Kriechenden, das Erhobene aus dem Erdschweren. Die Umkrustung der seelischen Hemmung zerbricht, die Seele, die Allmenschenseele strömt aus, strömt ins Unendliche zurück. Alles Persönliche, alles Individuelle ist in ihnen abgetan, daher auch die absolute Ähnlichkeit all dieser Gestalten im Augenblick ihrer Vollendung. Aljoscha ist kaum von dem Staretz, Karamasow kaum von Raskolnikow zu unterscheiden, wie sie aus ihren Verbrechen mit tränengebadetem Gesicht in das Licht des neuen Lebens treten. Am Ende aller Romane Dostojewskis ist die Katharsis der griechischen Tragödie, die große Entsühnung: über den verdonnernden Gewittern und der gereinigten Atmosphäre flammt die erhabene Glorie des Regenbogens, das höchste russische Symbol der Versöhnung.
Erst wenn die Helden Dostojewskis den reinen Menschen aus sich geboren haben, treten sie in die wahre Gemeinschaft. Bei Balzac triumphiert der Held, wenn er die Gesellschaft zwingt, bei Dickens, wenn er sich in die soziale Schicht, in das bürgerliche Leben, in die Familie, in den Beruf friedlich einordnet. Die Gemeinschaft, die der Held Dostojewskis anstrebt, ist keine soziale mehr, sondern schon eine religiöse, er sucht nicht Gesellschaft, sondern Weltbruderschaft. Einzig von diesem letzten Menschen handeln alle seine Romane: das Soziale, die Zwischenstadien der Gesellschaft mit ihrem halben Stolz und schiefen Haß sind überwunden, der Ichmensch ist zum Allmenschen geworden und in unendlicher Demut und glühender Liebe grüßt sein Herz den Bruder, den reinen Menschen in jedem anderen. Dieser letzte, gereinigte Mensch kennt keine Unterschiede mehr, kein soziales Standesbewußtsein: nackt, wie im Paradies, hat seine Seele keine Scham, keinen Stolz, keinen Haß und keine Verachtung. Verbrecher und Dirne, Mörder und Heilige, Fürsten und Trunkenbolde, sie halten Zwiesprache in jenem untersten und eigentlichsten Ich ihres Lebens, alle Schichten fließen ineinander, Herz zu Herz, Seele in Seele. Nur das entscheidet bei Dostojewski: wie weit einer wahr wird und zum wirklichen Menschentum gelangt. Wie diese Entsühnung, diese Selbstgewinnung zustande kam, ist gleichgültig. Wer erkannt hat, versteht alles und weiß, »daß die Gesetze des Menschengeistes noch so unerforscht und geheimnisvoll sind, daß es weder gründliche Ärzte noch endgültige Richter gibt«, weiß, es ist keiner schuldig oder alle, keiner darf keines Richter sein, jeder nur Bruder dem Bruder. Im Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine endgültig Verworfenen, keine »Bösewichter«, keine Hölle und keinen untersten Kreis wie bei Dante, aus denen selbst Christus die Verurteilten nicht zu erheben vermag. Er kennt nur Purgatorien und weiß, daß der irrhandelnde Mensch noch immer mehr der seelisch Glühende ist und näher dem wahren Menschen als die Stolzen, die Kalten und Korrekten, in deren Brust er erfroren ist zu bürgerlicher Gesetzmäßigkeit. Seine wahren Menschen haben gelitten, haben darum Ehrfurcht vor dem Leiden und damit das letzte Geheimnis der Erde. Wer leidet, ist durch Mitleid schon Bruder, und allen seinen Menschen ist, weil sie nur auf den inneren Menschen, auf den Bruder blicken, das Grauen fremd. Sie besitzen die erhabene Fähigkeit, die er einmal die typisch russische nennt, nicht lange hassen zu können, und darum eine unbegrenzte Verstehensfähigkeit alles Irdischen. Noch hadern sie oft mitsammen, noch quälen sie sich, weil sie sich ihrer eigenen Liebe schämen, weil sie die eigene Demut für eine Schwäche halten und noch nicht ahnen, daß sie die fruchtbarste Kraft der Menschheit ist. Aber ihre innere Stimme weiß immer schon um die Wahrheit. Während sie einander mit Worten schmähen und befeinden, blicken die inneren Augen sich längst selig verstehend an, Lippe küßt leidvoll den Brudermund. Der nackte, der ewige Mensch in ihnen hat sich erkannt, und dies Mysterium der Allversöhnung in der brüderlichen Erkennung, dieser orphische Gesang der Seelen, ist die lyrische Musik in Dostojewskis dunklem Werk.
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