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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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drängenden, gärenden Lebensschmerz, mit aufgepeitschten Sinnen zu überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen die Frucht abzutreiben, wie Frauen von Treppen springen oder durch Tanz und Gifte sich vom Unerwünschten zu befreien trachten. Sie toben, um dies leise Quellen in sich zu übertönen, sie zerstören manchmal sich selbst, nur um diesen Keim zu zerstören. Sie verlieren sich mit Absicht in diesen Jahren. Sie trinken, sie spielen, sie werden ausschweifend und all dies (sie wären sonst nicht Menschen Dostojewskis) fanatisch bis zur letzten Raserei. Schmerz treibt sie in ihre Laster, nicht eine lässige Begierde. Es ist nicht ein Trinken um Zufriedenheit und Schlaf, nicht das deutsche Trinken um die Bettschwere, sondern um den Rausch, um das Vergessen ihres Wahnes, ein Spielen nicht um Geld, sondern um die Zeit zu ermorden, ein Ausschweifen nicht um der Lust willen, sondern um in der Übertreibung ihr wahres Maß zu verlieren. Sie wollen wissen, wer sie sind; darum suchen sie die Grenze. Den äußersten Rand ihres Ich wollen sie in Überhitzung und Abkaltung kennen und vor allem die eigene Tiefe. Sie glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie sinken bis zum Tier hinab, aber immer, um den Menschen in sich zu fixieren. Oder sie versuchen, da sie sich nicht kennen, sich wenigstens zu beweisen. Kolja wirft sich unter einen Eisenbahnzug, um sich zu »beweisen«, daß er mutig ist, Raskolnikow ermordet die alte Frau, um seine Napoleonstheorie zu beweisen, sie tun alle mehr, als sie eigentlich wollen, nur um an die äußerste Grenze des Gefühls zu gelangen. Um ihre eigene Tiefe zu kennen, das Maß ihrer Menschheit, werfen sie sich in jeden Abgrund hinab: von der Sinnlichkeit stürzen sie in die Ausschweifung, von der Ausschweifung in die Grausamkeit und hinab bis zu ihrem untersten Ende, der kalten, der seelenlosen, der berechneten Bosheit, aber all dies aus einer verwandelten Liebe, einer Gier nach Erkenntnis des eigenen Wesens, einer verwandelten Art von religiösem Wahn. Aus weiser Wachheit stürzen sie sich in die Kreisel des Irrsinns, ihre geistige Neugier wird zur Perversion der Sinne, ihre Verbrechen glühen bis zur Kinderschändung und zum Mord, aber typisch ist für sie alle die gesteigerte Unlust in der gesteigerten Lust: bis in den untersten Abgrund ihrer Raserei zuckt die Flamme des Bewußtseins der fanatischen Reue nach.
    Aber je weiter hinein sie in der Übertreibung der Sinnlichkeit und des Denkens rasen, um so näher sind sie schon sich selbst, und je mehr sie sich vernichten wollen, um so eher sind sie zurückgewonnen. Ihre traurigen Bacchanale sind nur Zuckungen, ihre Verbrechen die Krämpfe der Selbstgeburt. Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale um den inneren Menschen und ist Selbstrettung im höchsten Sinn. Je mehr sie sich anspannen, je mehr sie sich krümmen und winden, um so mehr befördern sie unbewußt die Geburt. Denn nur im brennendsten Schmerz kann das neue Wesen zur Welt kommen. Ein Ungeheures, ein Fremdes muß dazu treten, muß sie befreien, irgendeine Macht Wehmutter werden in ihrer schwersten Stunde, die Güte muß ihnen helfen, die allmenschliche Liebe. Eine äußerste Tat, ein Verbrechen, das all ihre Sinne zur Verzweiflung spannt, ist nötig, um die Reinheit zu gebären, und hier wie im Leben ist jede Geburt umschattet von tödlicher Gefahr. Die beiden äußersten Kräfte des menschlichen Vermögens, Tod und Leben, sind in dieser Sekunde innig verschränkt.
    Dies also ist der menschliche Mythos Dostojewskis, daß das gemischte, dumpfe, vielfältige Ich jedes einzelnen befruchtet ist mit dem Keim des wahren Menschen (jenes Urmenschen der mittelalterlichen Weltanschauung, der frei ist von der Erbsünde), des elementaren, rein göttlichen Wesens. Diesen urewigen Menschen aus dem vergänglichen Leib des Kulturmenschen in uns zum Austrag zu bringen, ist höchste Aufgabe und die wahrste irdische Pflicht. Befruchtet ist jeder, denn keinen verstößt das Leben, jeden Irdischen hat es in einer seligen Sekunde mit Liebe empfangen, doch nicht jeder gebiert seine Frucht. Bei manchem verfault sie in einer seelischen Lässigkeit, sie stirbt ab und vergiftet ihn. Andere wieder sterben in den Wehen, und nur das Kind, die Idee, kommt zur Welt. Kirilow ist einer, der sich ermorden muß, um ganz wahr bleiben zu können, Schatow ist einer, der ermordet wird, um seine Wahrheit zu bezeugen.
    Aber die anderen, die heroischen Helden Dostojewskis, der Staretz Sossima, Raskolnikow,

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