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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um seine Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an der Tür der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasow in den Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft, den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit, am Endpunkte seines Gefühles, so wie Leonardo in seinen grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des Physischen zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt, so faßt Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des Überschwangs, gleichsam in den Sekunden, da sich der Mensch über den äußersten Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das Außerordentliche, das Unsichtbare, das Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und kranken Seele, den die Kunst je gekannt.
    Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski in diese Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort. Goethe schildert alles durch den Blick. Er ist – Wagner hat diese Unterschiede am glücklichsten ausgesprochen – Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er muß seine Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen. Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet: sie tun im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit. In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. Jene dämonische psychologische Scharfsichtigkeit des Details bei Dostojewski ist im letzten nichts anderes als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede Wiederholung, jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, immer hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte Mitschwingen. Man weiß aus der Rede bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus der Seele kristallisiert sich allmählich der Körper. Man träumt bei Dostojewski hellseherisch seine Menschen, sobald man sie sprechen hört. Dostojewski kann sich ersparen, sie graphisch zu zeichnen, denn wir selber werden in der Hypnose ihrer Rede zum Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im »Idioten« geht der alte General, der pathologische Lügner, neben dem Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet. Über Seiten flutet seine Lüge hin.
    Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung, aber aus seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich, wie er neben Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er aufschaut, von der Seite den Fürsten vorsichtig anblickt, ob er ihm nicht mißtraue, wie er stehenbleibt, hoffend, der Fürst würde ihn unterbrechen. Ich sehe, wie der Schweiß auf seiner Stirne perlt, sehe, wie sein Gesicht, das zuerst begeisterte, nun sich immer mehr verkrampft in Angst, sehe, wie er in sich zusammenkriecht, ein Hund, der fürchtet, Prügel zu bekommen, und ich

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