Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasows ist das Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tschermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakow sagt es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle Allesversteher.
Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski einen jeden ins Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt, Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt: aber Realismus, der über sich selbst hinaus ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski, der Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus gesteigert.
Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst, die tiefste und menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt manchmal der Krampf und die Not, dieses Übermaß von Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen Schicksals sich krümmen, an Michelangelo manchmal durch die mystische, steinerne, unerlösbare Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit, gepeitscht von den Bütteln des Geldes in die tiefste liefe des menschlichen Seins hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den niedersten Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von Licht und Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit.
Architektur und Leidenschaft
Que celui aime peu, qui aime la mesure!
La Boeti
A lles treibst du bis zur Leidenschaft.« Das Wort Nastassja Philipownas trifft alle Menschen Dostojewskis und trifft vor allem ihn, Dostojewski selbst, mitten in die Seele. Nur leidenschaftlich kann dieser Gewaltige den Phänomenen des Lebens entgegentreten und darum am leidenschaftlichsten seiner leidenschaftlichsten Liebe: der Kunst.
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