Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Selbstverständlich, daß der schöpferische Prozeß, die künstlerische Bemühung, bei ihm nicht eine geruhige, ordnend aufbauende, kühl berechnend architektonische ist. Dostojewski schreibt im Fieber, wie er im Fieber denkt, im Fieber lebt. Unter der Hand, die die Worte in fließenden kleinen Perlenketten (er hat die nervöse Eilschrift aller hitzigen Menschen) über das Papier rinnen läßt, hämmert der Puls in verdoppelten Schlägen. Schöpfung ist ihm Ekstase, Qual, Entzückung und Zerschmetterung, eine zum Schmerz gesteigerte Wollust, ein zur Wollust gesteigerter Schmerz. »Unter Tränen« schreibt der Zweiundzwanzigjährige sein erstes Werk »Arme Leute«, und seitdem ist jede Arbeit eine Krise, eine Krankheit. »Ich arbeite nervös, unter Qual und Sorgen. Wenn ich angestrengt arbeite, bin ich auch physisch krank.« Und tatsächlich, die Epilepsie, seine mystische Krankheit, dringt ein mit ihrem fiebrigen, entzündlichen Rhythmus, mit ihren dunklen, dumpfen Hemmungen, bis in die feinsten Vibrationen seines Werkes. Immer aber schafft Dostojewski mit dem Ganzen seines Wesens, im hysterischen Furor. Selbst die kleinsten, scheinbar gleichgültigen Partien seines Werkes, wie die journalistischen Aufsätze, sind gegossen und geschmolzen in der feurigen Esse seiner Leidenschaft. Nie schafft er mit dem bloß abgelösten, frei wirkenden Teil seiner schaffenden Kraft, gleichsam aus dem Handgelenk, immer ballt er seine ganze physische Erregbarkeit in das Geschehnis, bis an den letzten Nerv seines Lebens leidend und mitleidend in seinen Gestalten. Alle seine Werke sind gleichsam explosiv in rasenden Wetterschlägen durch einen ungeheuren atmosphärischen Druck herausgeschwemmt. Dostojewski kann nicht gestalten ohne inneren Anteil, und für ihn gilt das bekannte Wort über Stendhal: »Lorsqu’il n’avait pas d’émotion, il était sans esprit.« Wenn Dostojewski nicht leidenschaftlich war, war er nicht Dichter.
    Aber Leidenschaft in der Kunst wird ebenso zerstörendes Element, als sie bildnerisches war. Sie schafft nur das Chaos der Kräfte, dem der klare Geist erst die ewigen Formen erlöst. Alle Kunst braucht die Unruhe als Antrieb der Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte Ruhe der Auswägung zu einer Vollendung. Dostojewskis mächtiger, die Wirklichkeit diamanten durchdringender Geist weiß nun wohl um die marmorne, eherne Kühle, die das große Kunstwerk umwittert. Er liebt, er vergöttert die große Architektonik, er entwirft prachtvolle Maße, erhabene Ordnungen des Weltbildes. Aber immer wieder überflutet das leidenschaftliche Gefühl die Fundamente. Vergebens sucht Dostojewski als Künstler objektiv zu schaffen, außen zu bleiben, bloß zu erzählen und zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von Geschehnissen, Analytiker der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine Leidenschaft in Leiden und Mitleiden immer wieder in die eigene Welt. Immer ist etwas vom Chaos des Anfangs selbst in den vollendeten Werken Dostojewskis, nie die Harmonie erreicht (»Ich hasse die Harmonie«, so schreit Iwan Karamasow, der Verräter seiner geheimsten Gedanken). Auch hier ist zwischen Form und Wille kein Friede, kein Ausgleich, sondern – o ewige Zweiheit seines Wesens, alle Formen durchdringend von der kalten Schale bis zum glühendsten Kern! – ein unablässiger Kampf zwischen außen und innen. Der ewige Dualismus seines Wesens heißt im epischen Werke Kampf zwischen Architektur und Leidenschaft.
    Nie erreicht Dostojewski in seinen Romanen, was man fachmännisch »den epischen Vortrag« nennt, jenes große Geheimnis, bewegtes Geschehen in ruhiger Darstellung zu bändigen, das von Homer bis Gottfried Keller und Tolstoi sich in unendlicher Ahnenreihe von Meister auf Meister vererbt. Leidenschaftlich formt er seine Welt, und nur leidenschaftlich, nur erregt, kann man sie genießen. Wie eine Krankheit erlebt man die Krise seiner Menschen im Blute, wie eine Entzündung brennen die Probleme im aufgepeitschten Gefühl. Mit allen unseren Sinnen taucht er uns in seine brennende Atmosphäre, stößt er uns an den Abgrundrand der Seele, wo wir keuchend stehen, schwindeligen Gefühls, mit abgerissenem Atem. Und erst, wenn unsere Pulse jagen wie die seinen, wir selbst der dämonischen Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört sein Werk ganz uns, gehören wir ihm ganz.
    Es läßt sich nicht verleugnen, nicht verbergen, nicht verschönern: das Verhältnis Dostojewskis zum Leser ist weder ein freundschaftliches noch

Weitere Kostenlose Bücher